Die Legenden der Vaeter
Rückkehr nach Polen und schließlich sein früher Tod im Herbst des Jahres 1984. Die biographischen Angaben, die ich mühsam ins Polnische übersetzt hatte, füllten nicht einmal eine Seite, und ich hoffte, dass die Akte, die irgendwo in den Magazinen des IPN verborgen sein musste, die zahllosen Lücken im Lebenslauf meines Großvaters schließen würde.
Ich hatte mir bei meinem letzten Besuch in Lublinitz im Standesamt eine Kopie der Sterbeurkunde von Józef aushändigen lassen, doch das war nicht genug. Um Einsicht in die Akte eines Opfers des polnischen Sicherheitsdienstes zu bekommen, musste man nicht nur nachweisen, dass die betreffende Person verstorben war, man musste auch belegen, dass man ein Verwandter ersten Grades war, in meinem Fall also, dass ich der Enkel von Józef war. Die Mitarbeiterin des Instituts erklärte mir, dass sie meinen Antrag erst bearbeiten könne, wenn ich meine eigene Geburtsurkunde und die meines Vaters nachgereicht hätte. Das war ein Problem. Natürlich besaß ich eine Geburtsurkunde, in der die Namen meiner Eltern vermerkt waren, aus der Geburtsurkunde meines Vaters ergab sich jedoch nur, dass er der Sohn seiner Mutter war. Das Feld, in dem üblicherweise der Name des Vaters eingetragen wird, war leer geblieben, genau wie im Kirchenbuch |189| der evangelischen Gemeinde in Fürstenau, in dem ich nur die Notiz des Pastors fand, dass die Verzögerung der Taufe meines Vater durch »häusliche Verhältnisse« bedingt gewesen sei. Auch sonst gab es kein einziges amtliches Dokument, das meinen Vater in Beziehung zu Józef setzte.
Es ist nicht leicht, ein Geheimnis zu bewahren, schon gar nicht, wenn es um die eigene Familie geht. Meiner Großmutter war es trotzdem gelungen. Marianne hatte gründliche Arbeit geleistet und sämtliche Spuren Józefs aus den amtlichen Dokumenten getilgt. Das einzige Schriftstück, das ich vorlegen konnte, war Józefs Brief vom 6. Juni 1973, in dem er meinen Vater als »mein lieber Sohn« anspricht und ihn zum Schluss bittet, seinen Enkel zu küssen. Er erwähnt auch meinen Namen und unterschreibt mit »Euer Vater und Opa«, so als hätte er gewusst, dass ich eines Tages würde beweisen müssen, dass wir miteinander verwandt sind.
Das Verfahren zog sich hin. Ich musste zunächst von sämtlichen Dokumenten und Schriftstücken beglaubigte Kopien anfertigen, um sie anschließend ins Polnische übertragen zu lassen. Das aufwändige Prozedere war in Deutschland und Polen gleichermaßen durch Bestimmungen und Gesetze geregelt. Ein Dienstsiegel und der Stempel eines vereidigten Übersetzers sollten gewährleisten, dass meinem Antrag auf Akteneinsicht Originaldokumente zu Grunde lagen, und zugleich über drei Generationen hinweg eine zerbrechliche Indizienkette beglaubigen. Ein paar Wörter und Sätze in einem dreißig Jahre alten Brief, das waren die einzigen konkreten Hinweise darauf, dass dieser Mann mein Großvater war.
Ein ganzes Jahr verging, dann kam der Brief vom IPN, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich Józef Koźliks Akte einsehen |190| konnte. Es waren knapp hundertfünfzig Seiten, kurze Dienstanweisungen, Meldungen, Protokolle und ausführliche handschriftliche Berichte von inoffiziellen Mitarbeitern, alles mit dem Vermerk
ściśle tajne
, streng geheim. Der größte Teil des Materials stammte aus den frühen fünfziger Jahren. Ich sah die Akte durch, zunächst mühsam mit einem Wörterbuch, doch meine Polnischkenntnisse waren nach dem Sprachkurs in Warschau kaum besser geworden. Schließlich zog ich einen Übersetzer hinzu, und Józef, der während meiner Recherchen immer wieder seine Gestalt verändert hatte, nahm noch einmal neue Züge an. Auf den ersten Blick hätte die
sprawa operacyjnej obserwacji nr 7272
als Vorlage für einen Spionagethriller aus der Zeit des Kalten Krieges dienen können.
Die Klarnamen der Quellen waren in der Akte nicht vermerkt, nur die Decknamen der Spitzel, Ass, Komin und Sułtan, Katiusza und Granica. In erster Linie schienen es Trinkgefährten gewesen zu sein, die dem Büro des Sicherheitsdienstes in Lublinitz für eine Gefälligkeit oder ein paar
złoty
Informationen über Józef zukommen ließen, denn die meisten Begegnungen, von denen sie berichteten, spielten sich in der Kneipe der Genossenschaft ab. Die Berichte waren bemerkenswert. Józef gab eine Menge Details preis, die ihn in den Augen des Sicherheitsdienstes verdächtig machen mussten. Es war nicht bei den Geschichten über Arnheim und Ringway geblieben. Mal
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