Die Legenden der Vaeter
Jahre hinweg beschäftigt gehalten hatte.
Sie hatten lange an dem Tisch in der Küche gesessen. Józef muss gewusst haben, dass er meinen Vater und meine Mutter nur diesen einen Abend für sich allein haben würde. Am nächsten Morgen nahm er sie mit in eine Gastwirtschaft. Zu Fuß waren es vom Gutshof nur ein paar Minuten. Józef wechselte ein paar Worte mit dem Wirt, nickte den drei Männern zu, die an der Theke saßen. Dann bestellte er Frühstück, Brötchen mit Honig und Marmelade, dazu eine Kanne Kaffee. Sie hatten gerade erst angefangen zu essen, als die Tür aufgerissen wurde und eine Frau in den Schankraum stürmte, mit Lockenwicklern im Haar, über die sie ein Tuch gebunden hatte.
Sie redete lautstark auf Józef ein, dann wechselte sie ins Deutsche. »Tante«, sagte sie zu meinem Vater. »Ich bin deine Tante.« Es war Anna, Józefs Schwester. Sie entschuldigte sich wortreich dafür, dass meine Eltern nicht bei ihr untergekommen seien. Józef habe niemandem etwas davon gesagt, dass sie zu Besuch kommen würden. Erst heute Morgen habe sie beim Fleischer gehört, dass ihr Bruder am Abend zuvor in ein Auto mit einem deutschen Kennzeichen gestiegen sei. Sie wechselte zurück ins Polnische, stellte Józef ein paar Fragen und schüttelte entsetzt den Kopf. Auf keinen Fall, sagte sie, dürften meine Eltern |228| eine weitere Nacht auf dem Gelände des Gutshofs verbringen.
Kurz darauf saßen sie auf dem Sofa in Annas kleiner Wohnung im ersten Stock des Hauses in der
ulica Jagusia,
vor sich Porzellantassen mit viel zu starkem Kaffee. An der Wand hing ein gerahmtes Foto von Johannes Paul II., aus dem Fenster sah man in den Garten, über Felder und Äcker. Annas Mann war dazugekommen, Ryszard, der sich als Richard vorstellte, außerdem Lena, Józefs zweitjüngste Schwester, die inzwischen Witwe war, zusammen mit ihrem Sohn Bogdan. Die Frauen bestritten die Unterhaltung, erzählten von der dritten Schwester Hilda, die in Kattowitz lebte. Józef zündete sich eine Zigarette an, Anna zog sich zurück, um die Lockenwickler abzulegen.
Es klingelte an der Tür, und plötzlich drängelten sich die Nachbarn in der Wohnung. Sie hatten riesige Taschen dabei und packten in der Küche säckeweise Kartoffeln und Mohrrüben aus, Gläser mit eingekochtem Rotkohl, in Zeitungspapier eingeschlagenes Fleisch, Eier, Sahne, Konfekt, Wodka, Likör. Die meisten von ihnen sprachen Deutsch mit schlesischem Akzent, mit langgezogenen Vokalen und einer schwerfälligen Satzmelodie, und fast alle hatten Verwandte in der Bundesrepublik. Sie zählten Städte auf, Hamburg, Dortmund, Gelsenkirchen und die Namen kleiner Orte am Rand des Ruhrgebiets, von denen meine Eltern noch nie gehört hatten.
Die Wohnung leerte sich wieder. Anna und Lena gingen in die Küche, sie banden sich Schürzen um und bereiteten das Mittagessen vor. Meine Mutter bot Hilfe an, die Männer stellten Tische zusammen und rückten Stühle. Henryk kam, Annas Sohn, der als Elektriker in einem Kombinat in |229| Oppeln arbeitete. Er hatte gerade erst zusammen mit seiner Frau Bronia zwei Straßen weiter ein Haus gebaut. Bei ihnen sollten meine Eltern übernachten, und meine Mutter verteilte Süßigkeiten an Henryks Kinder, die sich artig bedankten. Alle waren da, die ganze Familie, sogar Maria, Józefs Mutter, saß für eine Weile stumm am Tisch, das eine Auge halb geschlossen.
Ab jetzt war es einfach nur ein Besuch bei entfernten Verwandten. Es wurden unverfängliche Fragen gestellt und höfliche Scherze gemacht, die Frauen hielten ihre Männer davon ab, über Politik zu sprechen und warfen ihnen böse Blicke zu, wenn sie die Gläser auf dem Tisch zu schnell wieder mit Wodka füllten. Die Vergangenheit ließen sie außen vor. Sie sprachen nicht über den Krieg, nicht über Józefs Jahre in Deutschland, nicht über Fürstenau und nicht über Marianne. Nur Anna beugte sich einmal, als sie Kaffee nachschenkte, zu meinem Vater herunter und flüsterte ihm zu: »Ihr seht euch ähnlich.«
Es gibt Fotos von diesem Besuch meiner Eltern in Steblau. Die hellen Farben sind über die Jahre hinweg verblasst, und die Aufnahmen haben einen warmen, braunen Ton bekommen, der zu der herbstlichen Stimmung passt. Das Bild, das meinen Vater und meine Mutter in der kleinen Küche im ersten Stock von Józefs Elternhaus zeigt, hatte Anna aus ihrer Blechschachtel gezogen, als ich sie das erste Mal von Krakau aus besucht hatte. Die anderen Fotos fand ich in einem Album im Schrank meiner Eltern,
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