Die Legenden des Raben 05 - Drachenlord
Worte zu flüstern und ihn zum Abschied auf die Stirn zu küssen.
Mit gesenktem Kopf eilte sie an Dystran vorbei, dem die Tränenspuren auf ihren Wangen, die im Feuerschein glänzten, nicht entgingen.
Als er saß, verspürte Dystran sofort den überwältigenden Drang fortzulaufen. Er wollte sich nicht dem stellen, was nun kommen musste. Draußen in der dunklen Stadt hallte der Lärm der Kämpfe. Alles, was er kannte und schätzte, war nun bedroht. Und hier, so leise atmend, dass man es kaum hören konnte, lag der Mann im Sterben, den er am dringendsten brauchte.
Er nahm Ranyls Hand und spürte, wie sich die Finger schwach bewegten.
»Seid Ihr müde, alter Knochen?«, fragte Dystran ruhig.
Er bemühte sich sehr, sich nichts anmerken zu lassen. Nur wenige Tage war es her, dass Ranyl noch stark gewesen war; er war gelaufen und hatte aufrecht gesessen und ohne Hilfe gegessen. Es tat weh, diese abrupte Veränderung miterleben zu müssen.
Ranyls Augenlider öffneten sich flatternd im Zwielicht. So strahlend und voller Entschlossenheit waren die Augen vor Kurzem noch gewesen. Jetzt waren sie stumpf und lagen tief in den Höhlen. Seine Lippen bewegten sich und brachten ein Zischen hervor, die Worte waren kaum zu verstehen.
»… nicht ertragen, dass Xetesk angegriffen wird. Werft sie zurück.«
»Die Wesmen werden nicht über die Mauern hinauskommen«, erwiderte Dystran sanft. »Ruht Euch aus und haltet durch, damit Ihr seht, wie wir siegen.«
»Nein, junger Spund, ich bin müde.« Er brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Ich überlasse das den jüngeren Männern. Ich war … eigentlich habe ich nur noch gewartet, dass Ihr mir Lebewohl sagt.«
Ranyls Stimme wurde jetzt so schwach, dass Dystran sich immer weiter vorbeugen musste. Die Worte jagten dem Herrn vom Berge einen kalten Schauder über den Rücken. Er packte die Hand des alten Mannes und schüttelte sie.
»Nein, Meister Ranyl«, widersprach Dystran. »Ich brauche Euch als Ratgeber. Es gibt sonst niemandem, dem ich trauen kann.«
»Ihr wart ein guter Freund«, sagte Ranyl, »und Ihr seid ein großer Führer. Ihr braucht niemanden.«
»Nein, Ranyl. Haltet durch. Die Schmerzen gehen vorbei, bald werdet Ihr wieder zu Kräften kommen.«
Doch es war nicht wahr, und das wusste er auch. Er sah
es in Ranyls bleichem Gesicht, das im Zwielicht wie das eines Gespenstes wirkte. Und er roch es.
Ranyl hustete schwach. »Trauert um mich, aber vermisst mich nicht.«
Dystran nahm es nickend hin. Er lächelte und legte eine Hand auf Ranyls kalte Stirn. »Alles, was ich erreicht habe, habe ich Euch zu verdanken. Ich werde ewig in Eurer Schuld stehen.«
Ranyl kicherte. »Eine nette Grabinschrift«, sagte er, und in seinen Augen flammte noch einmal die alte Kraft auf.
So starb er.
Dystran öffnete die Blenden vor dem Balkon, um die frische Nachtluft hereinzulassen. Vor den Mauern brannten Feuer, und er hörte den Kampflärm und die panischen Schreie, die langsam auf die Straßen übergriffen. Beinahe glaubte er sogar, das Blut in der Luft zu schmecken.
Mehr als alles andere fühlte er sich einsam. Nur ein Mann konnte Xetesk jetzt noch retten. Leider war er selbst dieser Mann. Eine kleine Weile ließ er den Tränen freien Lauf und hörte dem Kreischen von Ranyls Hausgeist zu, der nun wie sein Herr sterben musste.
Der Sieg war zum Greifen nahe, Tessaya spürte es genau. Im Kernland der Wesmen wuchsen harte Männer heran, und er war stolz darauf, neben ihnen zu kämpfen. Die Xeteskianer mussten vor ihm zurückweichen, und sein Herz sang jubelnd vom Sieg.
Er hatte seine Krieger bei einem scharfen Angriff auf den Wehrgängen angeführt. Seine Axt war rot, und seine Arme und die Brust waren von den Klingen der Feinde zerschnitten. Doch jetzt gehörte ihnen der Turm. Vor ihm fiel ein Krieger, dem ein Streitkolben den Schädel eingeschlagen hatte. Tessaya packte ihn am Kragen, als er niedersank,
und zerrte ihn zurück. Dann trat er in den frei gewordenen Raum und führte seine Axt von links unten nach rechts oben. Die Klinge traf den Gegner unter dem Kinn, sein Helm flog davon, sein Kiefer war zerschmettert, und sein Kopf wurde heftig zurückgeworfen. Er stürzte rückwärts und brachte die anderen Kämpfer hinter ihm aus dem Gleichgewicht.
Die Wesmen griffen weiter an, der Lärm wurde in der Enge immer größer.
»Haltet die hintere Tür«, befahl Tessaya und stieß einige Männer in diese Richtung. »Die anderen, ihr kümmert euch um die Treppe.«
Auf der engen
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