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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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und was dann?
    Sie trat an das schwarze Fenster. Man konnte natürlich versuchen, es gewaltsam zu öffnen oder die Scheibe einzuschlagen. Ihr
     Zimmer lag im ersten Stock, nicht besonders hoch. Aber draußen stand sicher eine Wache, und dahinter gab es nur die Taiga.
    Leise heulte der Wind, die schwarzen Silhouetten der Bäume bogen sich ächzend. Irgendwo in der Nähe bellten Hunde. Den kräftigen,
     tiefen Stimmen nach zu urteilen, mußten es riesige Tiere sein, Schäferhunde oder irische Wolfshunde. In der Ferne, im undurchdringlichen
     Dickicht der Taiga, heulten die schlaflosen Wölfe mit dem kalten Nachtwind um die Wette.
    Entweder tötet man mich beim Fluchtversuch, überlegte Lena kaltblütig, oder ich verirre mich in der Taiga. Übrigens muß es
     hier irgendeine Straße oder zumindest einen Weg geben. Aber wahrscheinlich erschießt man mich, bevor ich auch nur den Fuß
     darauf setzen kann. Dieser glatzköpfige Gangsterboß hat offensichtlich beschlossen, meine Informationen für seine Zwecke zu
     nutzen. Er hat mir sofort geglaubt und wird jetzt Wolkow und die Gradskaja so lange unter Druck setzen, bis er das alleinige
     Sagen im Konzern hat. Ich bin gespannt, wie lange das wohl dauern wird. Mich braucht er als Werkzeug für seine Erpressung.
     Er hält mich hier unter besten Bedingungen fest, damit er mich jederzeit als Zeugin präsentieren kann – nicht nur lebendig,
     sondern gesund, sauber, satt und imstande, zusammenhängend zu reden.
    Aber dann? Dann werde ich einfach verschwinden, wie verschlissenes Material, das keiner mehr braucht. Serjosha wird mich natürlich
     suchen, er ist imstande, das gesamte Tjumener Gebiet auf den Kopf zu stellen. Im letzten Moment kommt eine Spezialeinheit
     mit Hubschraubern angeflogen und nimmt das Haus im Sturm. Ja, natürlich!Nur die Hoffnung nicht aufgeben! Lena lächelte spöttisch. Sascha wußte, wer hinter uns her war. Ob die Leute vom hiesigen
     FSB dieses Haus vielleicht kennen? Aber was, wenn sie mit dem Glatzkopf auf freundschaftlichem Fuß stehen? Wieso sollten sie
     es sich mit ihm verderben? Ein schlechter Frieden mit einem König der Unterwelt ist immer noch besser als ein guter Krieg,
     und die Gehälter beim FSB sind ohne Zubrot äußerst mickrig. Sie selber werden also alles tun, damit Serjosha mich nicht findet.
    Ihr war nicht nach Schlaf zumute. In der vergangenen Nacht hatte sie sich so gründlich ausgeschlafen, daß sie fast jedes Zeitgefühl
     verloren hatte. Eine Uhr gab es in ihrem Zimmer nicht.
    Den »Grafen von Monte Christo« habe ich ungefähr mit zwölf gelesen, dachte sie mit einem spöttischen Lächeln. Was soll’s,
     kehren wir in die Kindheit zurück.
    Bevor sie sich mit dem Buch ins Bett legte, ging sie ins Bad. Vielleicht sollte ich so tun, als wäre ich krank geworden? dachte
     sie und betrachtete ihr blasses, trauriges Gesicht in dem großen Spiegel. Der Glatzkopf braucht mich lebendig und gesund.
     Aber er hat bestimmt seinen Hofarzt, der für Geld alles tut. Vielleicht könnte ich in den Hungerstreik treten? Nein, eine
     ganz blöde Idee. Dann binden sie mich fest und ernähren mich künstlich. Solange sie mich brauchen, lassen sie nicht zu, daß
     ich krank werde oder sterbe.
    Sie wusch sich gründlich die Haare, stand lange unter der heißen Dusche und kämmte sich dann sorgfältig vor dem Spiegel die
     nassen Haare. Statt des kleinen Männerkamms hatte sie jetzt eine richtige Massagebürste. Die taubstumme Nina hatte nicht die
     geringste Kleinigkeit vergessen, hatte sie mit allem, was eine Frau brauchen konnte, versorgt. Für wie lange wohl? Wieviel
     Zeit habe ich überhaupt noch zu leben? Eine Woche? Einen Monat? Mehr wohl kaum. Aber ein Monat sollte reichen, um mich zu
     finden. Serjosha wird keine Ruhe geben, bis er mich gefunden hat.
    Sie hüllte sich in den fremden Frotteemantel und verließ mit nassen, offenen Haaren das Bad. Wieder blieb sie vor dem schwarzen
     Fenster stehen. Die Hunde bellten jetzt besonders laut, ihr Bellen ging in Winseln über. Es waren mehrere Hunde, mindestens
     drei. Aber allmählich verstummten sie, einer nach dem anderen. Es wurde still, und in dieser Stille war deutlich ein weicher,
     dumpfer Aufschlag zu hören, als ob direkt unter dem Fenster etwas Großes, Schweres auf die Erde gefallen wäre.
    Und plötzlich ging das Licht aus. Es erlosch im ganzen Haus. Der gelbliche Widerschein, der eben noch aus den Nachbarfenstern
     gefallen war, verschwand. Lena stand reglos und starrte in die

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