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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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offenbar ein Gästezimmer. Wie in einem guten amerikanischen Haus
     hatte Lena hier ihre separate Dusche, komplett ausgestattet mit allen Toilettegegenständen. Außer Shampoo entdeckte sie noch
     eine Spülung für die Haare, eine Feuchtigkeitscreme, einen Frotteebademantel und eine Duschhaube.
    In den Schubladen der auf antik gemachten Kommode lagen ein Paar neue Strumpfhosen und Höschen, ein Nachthemd, zwei T-Shirts
     und ein weiter beigefarbener handgestrickter Pullover. Lenas warme Lederjacke allerdings war verschwunden. Dafür standen auf
     dem Teppich vor dem breiten Diwan flauschige Pantoffeln mit rosa Flanellohren.
    Lena mußte unwillkürlich lächeln. Sehr rührend! Wollen die mich hier etwa auf Dauer einquartieren? dachte sie.
    Der Hauptvorzug des neuen Zimmers war das große Fenster. Es war allerdings fest verschlossen, öffnen ließ sich nur ein kleines
     Oberlicht. Unmittelbar vor dem Fenster begann die weite, verschneite Taiga.
    In der ersten Nacht schlief Lena wie erschlagen. Am Morgen kam die Taubstumme und brachte das Frühstück – ein heißes Omelett,
     starken Kaffee, Brot und Butter. Auf dem kleinen Servierwagen lag auch noch eine Schachtel Zigaretten.
    »Wie lange wird man mich hier festhalten?« fragte Lena flüsternd und machte eine Kopfbewegung zum Bad hin, in der Hoffnung,
     daß die Taubstumme wieder ein »Kachelgespräch« mit ihr beginnen werde.
    Das Mädchen machte ein finsteres Gesicht und schüttelte abwehrend den Kopf.
    »Wie heißt du?« fragte Lena.
    Die Taubstumme zog ihren Konturenstift hervor und schrieb direkt auf die weiße Plastikoberfläche des Servierwagens: »Nina.«
    »Freut mich, Nina. Ich heiße Lena. Aber das weißt du sicher schon.«
    Nina nickte und lächelte.
    »Komm, Nina, setz dich doch ein bißchen. Laß uns zusammen Kaffee trinken. Ich stelle dir auch keine schwierigen Fragen mehr.«
    Nina schaute auf die Uhr, dann nickte sie, ging für einen Augenblick hinaus, ohne die Tür hinter sich zu schließen, und kam
     mit einer zweiten Kaffeetasse und einem Aschenbecher zurück.
    »Danke schön«, sagte Lena erfreut.
    Ein Gesprächsthema allerdings fand sich nicht, Lena fielen nur »schwierige« Fragen ein. So tranken sie den Kaffee schweigend
     und rauchten danach beide.
    »Wohnst du ständig hier? Oder kommst du nur zur Arbeit?« entschloß sich Lena endlich zu fragen.
    Aber Nina runzelte wieder die Stirn und schüttelte den Kopf.
    »Entschuldige. Ich weiß nicht, welche Fragen ich dir stellen darf. Hör mal, gibt es hier irgendwelche Bücher? OderZeitungen, Illustrierte? Dann könnte ich wenigstens ein bißchen lesen. Nur sitzen, essen, schlafen, an die Decke gucken und
     warten, ohne zu wissen, worauf – das kann ich nicht.«
    Nina nickte, drückte die Zigarette aus und ging, den Servierwagen vor sich her schiebend, rasch hinaus. Etwa eine halbe Stunde
     später erschien sie erneut. Statt der Teller und Tassen lag nun ein Stapel Bücher auf dem Servierwagen. Nina packte sie ordentlich
     auf die Kommode, antwortete auf Lenas »Danke schön« mit einem freundlichen Kopfnicken und verschwand wieder.
    Die übliche Mangelware der ausgehenden Siebziger, stellte Lena fest, als sie die Buchrücken musterte. Das Sortiment für den
     Gentleman: »Angélique«, »Die drei Musketiere«, »Wort und Tat« von Pikul, ein paar Romane von Maurice Druon. Die Sorte Bücher,
     die man im Austausch für Altpapier bekam oder über Beziehungen kaufte. Damals ein Muß für jedes Haus, in dem man auf sich
     hielt, obwohl man sie oft gar nicht gelesen hat. Die bunten Umschläge haben nur die importierte Schrankwand geschmückt, so
     wie Perlmuttporzellan aus der DDR oder tschechisches Kristall.
    Das einzige Buch, das sie interessierte, war ein Auswahlband von Bunin. Sie legte sich in Jeans und Unterhemd aufs Bett. Nach
     den ersten zwei Seiten der Erzählung »Antonow-Äpfel« hatte sie vergessen, wo sie sich befand. Ihr war, als dufte es plötzlich
     nach Äpfeln und der eigenen Jugend. Das letzte Mal hatte sie Bunin gelesen, als sie achtzehn war.
    Mittags erschien Nina und brachte ein großes Stück gebratenen Stör, Gemüsesalat, zwei Äpfel und Bananen.
    »Die Verpflegung ist fürstlich«, bemerkte Lena. »Man füttert mich wie eine Mastgans.«
    Unmerklich war es Nacht geworden. Lena klappte den Bunin zu. Sie hatte den dicken Band von Anfang bis Ende durchgelesen, einschließlich
     Vorwort und Anmerkungen.
    Jetzt muß ich mir wohl Pikul oder Dumas vornehmen, dachte sie melancholisch,

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