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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Nachthemd.
    »Was treibt dich in solcher Herrgottsfrühe aus dem Bett?« fragte sie gähnend.
    »Geschäfte«, erwiderte er und ging ins Bad.
    Nach dem Duschen fühlte er sich munter und frisch. Sein Gesicht strahlte. Als er im Flur die Schuhe anzog, tauchte Regina
     erneut auf. In der Hand hielt sie seine Lieblingstasse, in der heißer Kaffee mit Sahne dampfte.
    »Zum Frühstück wird die Zeit nicht mehr reichen«, sagte sie, »aber trink wenigstens einen Schluck Kaffee.«
    »Danke.« Er nahm ihr die Tasse aus der Hand.
    Wirklich, ein heißer Kaffee konnte jetzt nicht schaden. Regina bereitete ihn so zu, wie er ihn liebte – sehr stark und süß,
     mit einer großen Portion fetter Sahne. Heute kam er ihm besonders lecker vor. Wenja trank die ganze Tasse aus, gab Regina
     einen Kuß auf die Wange, schnappte sich die Schlüssel seines alten Mercedes und verließ das Haus.
    Regina blieb noch eine Weile stehen und wartete, bis das Motorengeräusch sich entfernt hatte. Dann ging sie in die Küche und
     wusch die Tasse sehr sorgfältig mit Soda und Chlorkalk aus.
    Es war ein sonniger Morgen. Er lenkte seinen treuen alten Wagen durch den Verkehr und überlegte, wie er am besten nach Domodedowo
     fuhr. Unterwegs kam er an einem kleinen Blumenmarkt vorbei. Er hielt an und kaufte einen Strauß großer Teerosen. Natürlich
     würde er sie Lena gar nicht geben können. Aber trotzdem – die Blumen waren für sie.
    Als er an der Ampel stand, schob er eine Kassette in den Recorder, das alte Beatles-Album »Help!«.
    »Help! I need somebody!« Er sang die erste Strophe mit, obwohl er die englischen Worte kaum verstand. Aber seit frühester
     Jugend kannte er alle Lieder dieses Albums auswendig.
    Die Ampel sprang auf Gelb. Er spürte ein seltsames, unangenehmes Stechen im ganzen Körper. Gleich darauf erfüllte ein scharfer,
     brennender Schmerz seine Brust.
    Sieben Mädchen sahen ihn von weither durch einen heißen, blutigen Nebel an. Ihre Blicke waren ernst und traurig. Eine hieß
     Tanja Kostyljowa, ihr langer, nasser Zopf hing ihr über die nackte Schulter. Die übrigen sechs blieben namenlos. Er wollte
     ihre Namen auch gar nicht wissen.
    Hinter ihm hupten die Autos. Die Ampel zeigte längstGrün. Er hörte nichts. Der Schmerz schwoll an, wurde unerträglich. Seine rechte Hand tastete verzweifelt über das Armaturenbrett.
     Seine Augen sahen nichts mehr außer blutigem Nebel und sieben jungen Mädchengesichtern.
    Er fiel mit der Stirn auf das Lenkrad. Der alte Mercedes begann verzweifelt zu hupen, heulte auf wie ein treuer Hund, der
     seinen geliebten Herrn verloren hat, verstummte dann aber sofort. Der Kopf Wenjas rutschte zur Seite.
    »He, Kumpel, was ist los?« Der Fahrer des Lastwagens schaute in das halbgeöffnete Fenster des schwarzen Mercedes, der ihm
     den Weg versperrte. Er hatte als erster die Geduld verloren und war ausgestiegen, um dem Trottel, der den Verkehr aufhielt,
     kräftig die Meinung zu sagen. Im Auto lief leise das Lied »Yesterday«. Auf dem Beifahrersitz lag ein Strauß großer Teerosen.
     Der Mann am Steuer war tot.
    »Yesterday all my troubles seemed so far away«, sang das legendäre Quartett aus Liverpool.
    ***
    Als das Telefon klingelte, sah Regina auf die Uhr.
    »Regina Valentinowna Gradskaja?«
    »Ja, ich höre.«
    »Ihr Mann, Wenjamin Borissowitsch Wolkow …«
    »Wohin soll ich kommen?« fragte sie heiser, als sie die tragische Nachricht gehört hatte.
    »Ins Botkin-Krankenhaus, in die Leichenhalle.«
    »Gut. In einer Stunde bin ich da.« Die eigene Stimme kam ihr wie tot vor.
    Sie legte den Hörer auf, zündete sich eine Zigarette an und merkte mit Erstaunen, daß ihre Hände zitterten.
    »Wenja, Wenetschka«, flüsterte sie tonlos, »ich hatte keine Wahl. Es war die einzige Möglichkeit, den Konzernzu retten. Locke hätte uns sonst im Handumdrehen geschluckt. Meinst du, es wäre mir leicht gefallen, Gift in deinen Kaffee
     zu tun? Jetzt bist du tot. Und niemand kann irgend etwas beweisen, niemand – niemals.«
    ***
    Nach der Rast gingen sie wieder durch die Taiga. Lena kam plötzlich der Gedanke, daß Wassja selber nicht mehr wußte, wohin
     sie gingen. Sie hatten sich verirrt. Wie lange konnten sie noch so gehen, ohne zu essen? Von der Schokolade war nur noch ein
     kleines Stück übrig. Es wurde dunkel, der Himmel bezog sich mit Wolken. Wenn der Mond nicht schien, würde es bald völlig finster
     sein.
    In ihren Ohren summte es. Lena spürte den eigenen Körper nicht mehr, er war leicht,

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