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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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stellen. Der Lokführer würde sie sehen und den
     Zug anhalten.
    Durch die dünnen Wolken schimmerte fahl und kalt die Sonnenscheibe. Die Stille der Taiga war ohrenbetäubend. Man konnte hören,
     wie die Stämme der Bäume knirschten.
    Lena wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war. Sie hatte sich eng zusammengekauert, ihr wurde immer kälter. Sie fürchtete,
     den Zug zu verpassen, wenn sie ins Haus zurückkehrte. Die Sonne wanderte langsam gen Westen, aber noch immer war kein Zug
     gekommen. Sie schloß die Augen. Der Wunsch zu schlafen wurde übermächtig. Sie wußte, sie durfte nicht einschlafen, aber sie
     konnte nichts dagegen tun. Der Zug wird mich wecken, dachte sie, bestimmt wird er mich wecken.
    Aber es kam kein Zug.
    ***
    Der Hubschrauber kreiste entmutigt über der Taiga. Oberst Krotow drückte das Gesicht an das Bullauge.
    Wenn sie sie weggebracht hätten, dachte er, hätte ihre Jacke nicht mehr dort gehangen. Wenn sie sie schon umgebracht hätten,
     wären noch mehr Sachen dagewesen, ihre Stiefel zum Beispiel. Vielleicht hat sie fliehen können.
    Er spürte, daß wenig Logik in seinen Überlegungen war, daß er sich im Grunde nur selber beschwichtigen wollte.
    Angenommen, sie ist geflohen. Wie lange kann das her sein? Einen Tag? Zwei? Mehr jedenfalls nicht. Jetzt ist kein strenger
     Frost mehr, immerhin ist schon März. Sie hätte zum Bohrturm oder zur Eisenbahn gehen können, dem Geräusch nach. Aber zu den
     Bohrtürmen gibt es eine Telefonverbindung. Von dort hätte man uns benachrichtigt.
    »Es wird bald dunkel«, sagte der Pilot. »Wir müssen umkehren.«
    »Noch ein bißchen«, bat der Oberst, ohne sich vom Fenster loszureißen.
    Zuerst sah er die Schneise, dann die dünnen Streifen der Schienen. Dann das einsame Häuschen, winzig wie ein Kinderspielzeug.
    »Auf dieser Strecke gibt es schon lange keinen Zugverkehr mehr«, sagte der Pilot zu Krotow, »nur manchmal kommen Güterzüge
     mit Holz aus Towda vorbei.«
    »Geh ein bißchen tiefer!« bat der Oberst. Er begriff selber nicht, warum sein Herz plötzlich so laut und schnell zu klopfen
     begann.
    Der Hubschrauber ging hinunter. Aus der geringen Höhe war die kleine dunkle Gestalt im Schnee deutlich sichtbar. Sie lag zusammengerollt
     direkt neben den Schienen.
     
    Lena fror nicht mehr. Sie wollte nicht aufwachen. Doch der Lärm und der starke, geschmeidige Wind, der die Schöße ihrer kurzen,
     weiten Lammfelljacke immer wieder hochriß, ließ sie nicht schlafen. Langsam und schwer, mit ungeheurer Mühe, öffnete sie die
     Augen. Der Wind fegte ihr ins Gesicht, die Augen begannen zu tränen, sie konnte nichts sehen. Noch eine heroische Anstrengung
     – und sie stützte sich auf den Ellenbogen. Durch den tiefen Schnee kam Serjosha auf sie zugelaufen, mit ihm kamen noch andere
     Leute. Daneben rotierte der riesige Propeller eines Hubschraubers.
    Oberst Krotow nahm seine Frau in die Arme und hob sie hoch. Sie kam ihm ganz leicht, fast gewichtlos vor.

Epilog
    »Regina Valentinowna, vielleicht stelle ich Ihnen jetzt eine taktlose und schwer zu beantwortende Frage. Wie haben Sie es
     geschafft, nach einem solchen Schicksalsschlag sofort wieder an die Arbeit zu gehen?«
    Der Fernsehmoderator, ein auf jung getrimmter Playboy mit Bart, blickte Regina aus hellgrauen, leicht zusammengekniffenen
     Augen an. Sein Gesicht drückte ehrliches Mitgefühl aus.
    »Was hätte ich sonst tun sollen?« Regina lächelte traurig. »Der Konzern ›Wenjamin‹ ist mein Leben, mein Kind, wenn Sie so
     wollen. Unser gemeinsames Kind. Es wäre Verrat, die Projekte, die mein Mann geplant hat, jetzt zu stoppen und nicht zu Ende
     zu führen.«
    »Apropos, Ihr letztes Projekt. Soweit ich weiß, wird es eine Sensation werden, eine Revolution in der Welt der Popmusik.«
    Lena schenkte Tee ein. Am Küchentisch saßen Serjosha und Mischa Sitschkin.
    Lisa kam hereingerannt und kletterte zu ihrem Papa auf den Schoß.
    »Mama, kriege ich auch Tee?« fragte sie. »Für mich mit Zitrone. Kommt bald das ›Sandmännchen‹?«
    »Bald, Lisa, bald«, antwortete Lena und holte, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, noch eine Tasse.
    »Nun, ich will keine großen Worte machen.« Regina lächelte wieder in die Kamera, diesmal ein wenig verlegen. »Wenjamin Borissowitsch
     hatte einfach eine frische,originelle Idee, wie schon so oft. Mit einem Unterschied – dieses Projekt sollte sein letztes werden. Leider.«
    »Das ist ja nicht zum Aushalten!« platzte Mischa heraus, sprang auf und

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