Herzstoss
KAPITEL EINS
»Okay, wenn Sie sich bitte für einen Moment um mich versammeln würden, dann erzähle ich Ihnen ein bisschen was über das prachtvolle Gebäude vor Ihnen.« Der Führer lächelte die Gruppe von müden und leicht abgekämpft wirkenden Touristen aufmunternd an, die vor der St. Anne’s Shandon Church umherschwirrten. »So ist’s fein«, schmeichelte er in seinem übertriebenen irischen Singsang und schwenkte ungeduldig einen smaragdgrünen Schal über seiner stattlichen Gestalt. »Kommen Sie ein Stückchen näher, junge Dame. Ich beiße nicht.« Sein Lächeln wurde breiter, sodass die untere Reihe seiner fleckigen und krummen Zähne sichtbar wurde.
Gut, dass ihr Mann die Reise nach Irland am Ende doch nicht mitgemacht hatte, dachte Marcy Taggart, als sie ein paar zögerliche Schritte nach vorn machte. Er hätte das schiefe Gebiss des armen Mannes als persönlichen Affront betrachtet. Da geben die Leute haufenweise Geld für Schönheitsoperationen und Designerklamotten aus und vergessen das Wichtigste von allem – ihre Zähne , empörte er sich regelmäßig. Als Kieferorthopäde neigte Peter zu solch harschen Urteilen. Hatte er ihr nicht einmal erklärt, dass ihm als Erstes nicht ihre schlanke Figur oder ihre großen braunen Augen aufgefallen waren, sondern ihre sorgfältig gepflegten, geraden und makellos weißen Zähne? Heute konnte Marcy sich nur wundern, dass sie solche Äußerungen einmal schmeichelhaft, ja, sogar romantisch gefunden hatte.
»Darf ich um Ihre volle Aufmerksamkeit bitten«, sagte der Touristenführer mit einem leicht tadelnden Unterton. Offensichtlich war er an die beiläufige Unhöflichkeit der ihm Anbefohlenen gewöhnt und nahm schon lange keinen Anstoß mehr daran. Obwohl die vierundzwanzig Frauen und Männer vorwiegend mittleren Alters viel Geld für den Tagesausflug nach Cork bezahlt hatten, der mit etwa 120 000 Einwohnern zweitgrößten Stadt der Republik Irland, hatte bestenfalls eine Handvoll von ihnen auch nur einem Wort zugehört, das der Mann seit der Abfahrt in Dublin gesagt hatte.
Marcy hatte es versucht, sie hatte sich wirklich angestrengt. Immer wieder hatte sie sich zur Konzentration ermahnt, als der Führer sie auf der scheinbar endlosen Busfahrt über 168 Meilen verstopfte Autobahnen und enge Landstraßen über die wechselvolle Geschichte Corks belehrt hatte. Der Name ging auf das irische Wort »corcach« zurück, ausgesprochen »kar-kax«, was so viel bedeutete wie »sumpfiger Ort« und sich auf die Lage der Stadt an dem Fluss Lee bezog; sie war im siebten Jahrhundert nach Christus gegründet worden und heute Verwaltungssitz der Grafschaft Cork und die größte Stadt der Provinz Munster. »Die eigentliche Hauptstadt Irlands« nannten die Bewohner Corks ihre Stadt; ihr Beiname »Rebel City« kam daher, dass die Stadtoberen 1491 nach dem Ende der englischen Rosenkriege den Kronprätendenten Perkin Warbeck unterstützt hatten. Heute war Cork der größte Industriestandort im Süden Irlands, wichtigster Zweig war die pharmazeutische Industrie, bekanntestes Produkt ausgerechnet Viagra.
Zumindest glaubte Marcy, dass der Führer das gesagt hatte. Sicher war sie sich nicht. Ihre Fantasie spielte ihr in letzter Zeit unerfreulich häufig Streiche, und mit fünfzig war ihr Gedächtnis auch nicht mehr das, was es einmal war. Aber wovon konnte man das schon behaupten, dachte sie, als sie den Blick verstohlen über die starren Mienen ihrer Mitreisenden schweifen ließ, die ihre besten Zeiten allesamt offensichtlich längst hinter sich hatten.
»Wie Sie sehen, beherrscht der Turm von St. Anne’s hier oben auf der Hügelkuppe den gesamten Nordteil der Stadt«, mühte der Führer sich, die Führer der anderen Reisegruppen zu übertönen, die plötzlich aufgetaucht waren und sich an der Straßenecke um die beste Position drängelten. »St. Anne’s ist das bedeutendste Gebäude von Cork, ihr 1722 erbauter Turm, der an einen riesigen Pfefferstreuer erinnert, gilt weithin als Wahrzeichen der Stadt. Von jedem Punkt in der Altstadt können Sie die Spitze mit der vergoldeten Kugel und die einzigartige Wetterfahne in Fischform sehen. Zwei Seiten des Turmes sind mit rotem Sandstein verklinkert, die beiden anderen mit weißem Kalkstein, Farben, die sich auch in den Trikots der Fußball-Mannschaft und des Hurling-Teams der Stadt wiederfinden.« Er wies auf die große, runde, schwarz-goldene Uhr im untersten Stock der vierstöckigen Turmspitze. »Die große Uhr von Shandon sagt den
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