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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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klatschte
     Regina leichtin die Hände und sagte ein einziges kurzes Wort auf Englisch:
    »Enough!«
    Wolkow erstarrte in unnatürlicher Pose, mit zurückgeworfenem Kopf, weit geöffnetem Mund und hoch erhobenen Armen, dann sank
     er langsam in sich zusammen, wie ein Luftballon, aus dem die Luft herausgelassen wird. Er atmete ruhiger, langsamer, sein
     Gesicht nahm wieder eine normale, gesunde Farbe an.
    Er öffnete die Augen und setzte sich ruhig auf dem Teppich zurecht. Selbst beim schwachen Licht der Tischlampe war zu erkennen,
     daß er glänzend aussah, gerade so, als sei er in einem teuren Kurort gewesen – nur die Sonnenbräune fehlte.
    »Danke, Regina«, sagte er mit tiefer, samtener Stimme, küßte galant die kühle Hand seiner Frau, erhob sich leicht und federnd
     vom Teppich, rieb sich die ein wenig feuchten Hände und fragte:
    »Wie sieht’s mit dem Abendessen aus?«

Kapitel 8
    Katja Sinizyna hielt sich seit früher Kindheit für einen zutiefst unglücklichen und erfolglosen Menschen. Sie war eine gute
     Schülerin gewesen, ihre Lieblingsfächer waren Mathematik und Physik. Katja glaubte aufrichtig, sie tue ein gutes Werk, wenn
     sie die anderen in diesen Fächern abschreiben ließ. Hilfsbereit legte sie ihr Heft mit der Hausaufgabe auf das Fensterbrett
     in der Toilette, und in der großen Pause nutzten etwa fünf bis sechs Mitschülerinnen ihre Gutmütigkeit – so viele Mädchen
     hatten mit ihren Heften auf dem breiten Fensterbrett Platz.
    Bei Klassenarbeiten, besonders am Quartals- und am Jahresende, schrieb Katja sämtliche Lösungen mit Durchschlagund verteilte sie an die notleidenden Banknachbarn. In der achten Klasse wurde sie dabei zum erstenmal ertappt. Der kleine,
     kahle, blaubekittelte Physiklehrer schickte sie zur Strafe vor die Tür, wischte alle Aufgaben von der Tafel und schrieb schnell
     neue an.
    Katja wurde dem Direktor vorgeführt, man bestellte ihre Eltern. Gottseidank warf man sie nicht von der Schule. Katja war überzeugt,
     daß ihre Mitschüler ihre Heldentat würdigen und mit Anerkennung vergelten würden. Aber es wollte nach wie vor niemand mit
     ihr befreundet sein.
    Die Schule, die Katja besuchte, war die beste in Chabarowsk. Es war eine Schule mit Mathematik-Schwerpunkt und integriertem
     Englischunterricht. Nur Kinder aus den Familien der Partei- und Militärelite wurden hier aufgenommen. Katjas Mutter war nur
     Zahnärztin an der staatlichen Poliklinik, aber sie behandelte sowohl den Direktor wie auch dessen Stellvertreter.
    Die Elite-Kinder lebten vom Säuglingsalter an nach besonderen Gesetzen. Für sie zerfiel die Menschheit in zwei Teile. Die
     »Bevölkerung« war der größere und schlechtere Teil; dort war alles anders – die Lebensweise, die Moral, sogar die Wurst, die
     nach Papier schmeckte und ungenießbar war. Wurst war Mangelware in Chabarowsk, die »Bevölkerung« stand dafür in langen Schlangen
     an. Ein Elite-Kind, das aus dem Fenster des elterlichen »Wolga« eine solche Schlange erblickte, fühlte sich nur in seiner
     Verachtung gegenüber denjenigen bestätigt, die nicht das Glück hatten, zur kleinen, gemütlichen und satten Welt der Auserwählten
     zu gehören.
    Von der ersten Klasse an spürte Katja, daß sie für ihre Mitschüler immer eine Außenseiterin bleiben würde. Ihre Mutter gehörte
     als Zahnärztin gewissermaßen zu den Bediensteten. Eine Zahnarzttochter akzeptierten die Kinder der Nomenklatura, die Sprößlinge
     von Parteisekretären,Gewerkschaftsbossen und hohen Militärs, niemals als ihresgleichen.
    Katja glaubte hartnäckig, wenn sie nur immer lieb und nett sei, werde man sie mögen und mit ihr Freundschaft schließen. Was
     machte es schon aus, wer die Eltern waren?
    In den unteren Klassen brachte Katja ihre Lieblingsspielsachen mit und verschenkte sie. Sie machte gern Geschenke, aber vor
     allem sollten die anderen begreifen, was für ein nettes Mädchen sie war.
    Einige ihrer Gaben wurden herablassend angenommen, aber die meisten dieser armseligen Plastikpüppchen und abgeschabten Plüschtiere
     wurden verächtlich zurückgewiesen. Die Kinder der Nomenklatura hatten deutsche Puppen mit echten, waschbaren Haaren und flauschige
     tschechische Plüschtiere mit lustigen Schnäuzchen.
    Ein anderes Kind an Katjas Stelle hätte vielleicht auf seine arroganten Klassenkameraden gespuckt, kein Spielzeug mehr angeschleppt,
     keine Hausaufgaben abschreiben lassen. Manch einer wäre zornig geworden und hätte nicht nur die Elite-Kinder,

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