Die leichten Schritte des Wahnsinns
aufrecht, hatte keine Angst,
den Menschen in die Augen zu sehen, zu lächeln – mit einem Wort: zu leben.
Mitja Sinizyn machte ihr schon zwei Tage später einen Heiratsantrag, am einunddreißigsten Dezember, als es Mitternacht schlug
und das Jahr 1991 begann. Katja zweifelte nicht daran, daß sie sich von nun an nie mehr trennen würden. Sie waren füreinander
wie geschaffen.
Die Familie Sinizyn nahm Katja wohlwollend und freundlich auf. Man sah sofort, daß dieses stille, kultivierte Mädchen keine
raffgierige Provinzlerin war, die es nur auf eine Aufenthaltserlaubnis für Moskau abgesehen hatte.
Alles ließ sich gut an. Zunächst mieteten sie ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung, aber sehr bald verschaffte ihnen Mitjas
Schwester eine eigene Wohnung. Sie lag zwar am Stadtrand, in Wychino, und befand sich im Erdgeschoß, aber dafür hatte sie
zwei Zimmer und war separat.
Katja schloß das Institut mit Auszeichnung ab und fand eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsinstitut
für Leichtmaschinenbau. Allerdings merkte sie rasch, daß das keine Arbeit war, sondern nur eine Methode, auf Staatskosten
die Zeit totzuschlagen. Im übrigenwar sie an einer Karriere auch gar nicht interessiert. Im Mittelpunkt ihres Lebens stand die Familie, das heißt Mitja. Mehr
als alles auf der Welt wollte sie ihm ein Kind gebären. Ihr ganzes Sinnen und Trachten konzentrierte sich auf dieses Kind,
sie konnte an nichts anderes mehr denken, von nichts anderem mehr reden. Aber drei Schwangerschaften endeten mit Fehlgeburten,
und die Ärzte stellten die schreckliche, hoffnungslose Diagnose: Unfruchtbarkeit.
Mitja tröstete sie damit, daß es auch Familien ohne Kinder gäbe, daß man ja eines der unzähligen verstoßenen Kinder aus dem
Kinderheim adoptieren könne. Aber alle Trostworte waren zwecklos. Katjas Minderwertigkeitskomplex, ihre Überzeugung, nicht
gebraucht zu werden, flammte mit neuer Kraft auf. Sie glaubte, sie habe Mitjas Leben ruiniert und er verlasse sie nur aus
Mitleid nicht.
Ihr Selbsthaß steigerte sich derart, daß sie nicht länger leben wollte. Und genau in diesem Augenblick erschien der junge
Praktikant aus ihrem Institut auf der Bildfläche. Er fand sie in Tränen aufgelöst in der hintersten Ecke des leeren Raucherzimmers
und bot ihr eine Spritze an.
»Setz dir eine Spritze, das bringt Erleichterung«, sagte er so sanft und mitfühlend, daß Katja, ohne über den Sinn seiner
Worte nachzudenken, ihm den Arm hinstreckte.
Mit freudigem Erstaunen entdeckte sie, daß die ausweglose Melancholie, die ihre Seele in der letzten Zeit beherrscht hatte,
sich auflöste. Ihr wurde leicht und froh zumute.
»Was war das?« fragte sie den jungen Mann.
»Morphium«, erwiderte er wie selbstverständlich.
Katja erschrak nicht. Was war Schreckliches daran, daß sie sich zum erstenmal seit vielen Monaten ruhig und gut fühlte? Was
sie noch vor zehn Minuten zum Weinen gebracht hatte, erschien ihr jetzt als lächerliche Bagatelle. Noch nie in ihrem Leben
hatte sie eine solche Leichtigkeit und Gelassenheit gespürt.
»Wenn du mehr willst, kann ich dir jederzeit so viel verkaufen, wie du brauchst«, erklärte der junge Mann mit verschwörerischem
Augenzwinkern.
Schon sehr bald wollte Katja mehr. Als die Wirkung der Spritze nachließ, fühlte sie sich wieder elend, noch schlechter als
vorher. Anfangs hatte sie genug Geld, aber bald mußte sie es Mitja mit List und Lügen abluchsen.
Ihr Zusammenleben verwandelte sich in einen endlosen Kampf. Er schleppte sie zu verschiedenen Ärzten, Suchtspezialisten, Hypnotiseuren,
und sie glaubte die ganze Zeit, er wolle ihr die einzige und wichtigste Freude im Leben nehmen. Sie war überzeugt, ihre Sucht
sei nur vorübergehend und sie könne jeden Moment damit aufhören.
Die Arbeit gab Katja auf. Zum Schluß ging sie kaum noch unter Leute. Die Drogen kaufte sie möglichst an verschiedenen Orten,
um nicht immer dieselben Händler zu treffen.
Den letzten Versuch, seine Frau von den Drogen abzubringen, unternahm Mitja einen Monat vor seinem Tod. Er machte Katja mit
einer hervorragenden Psychotherapeutin bekannt, einer gütigen, mitfühlenden Frau: Regina Valentinowna Gradskaja.
»Du bist schon im fortgeschrittenen Stadium der Sucht, es würde dir sehr schwerfallen, sofort aufzuhören. Wir werden die Dosis
ganz allmählich verringern«, sagte Regina Valentinowna zu Katja.
Die anderen erklärten, es sei besser,
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