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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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sondern die
     ganze Menschheit erbittert gehaßt. Aber Katja fühlte sich nur immer minderwertiger, je älter sie wurde.
    Als sie der Mutter von den vielen Kränkungen erzählen wollte, unterbrach diese sie streng:
    »Such den Grund dafür bei dir selbst! Denk nach, warum niemand mit dir befreundet sein will. Denn du meinst doch wohl nicht,
     daß alle anderen schlecht sind und nur du gut?«
    Am Abend der Abschlußfeier goß es in Strömen. Katja ging in dem duftigen weißen Kleid, das sie sich zu diesem ersten richtigen
     Ball selbst genäht hatte, aus dem Haus. Als sie barfuß über den Schulhof lief, in der einen Hand einen Schirm und in der anderen
     eine Tüte mit ihren weißen Lacksandaletten, brauste eine schwarze Funktionärslimousine an ihr vorüber und bespritzte sie von
     Kopf bis Fuß. Nicht nur das weiße Ausgehkleid, auch das sorgfältiggeschminkte Gesicht und sogar die kurzen rotblonden Haare waren über und über besudelt. In der Limousine saßen zwei von Katjas
     Mitschülern.
    Der Junge, der am Steuer saß, der männliche, breitschultrige Sohn eines Parteibonzen, war der Grund gewesen, warum Katja nächtelang
     an dem weißem Kleid genäht und sich drei Stunden vor dem Spiegel hin- und hergedreht hatte.
    Es war keine böse Absicht – die Pfützen waren sehr tief, und sie war sehr nahe daran vorbeigelaufen. Zur Abschlußfeier ging
     sie nicht mehr, das Kleid versuchte sie nicht einmal zu waschen, sie warf es einfach weg, um für alle Zeiten die Elite-Schule
     zu vergessen, die Jungen und Mädchen, die ihre Freundschaft ablehnten.
    Mit einem Einser-Zeugnis fuhr Katja nach Moskau und schaffte unerwartet leicht die Aufnahme ins Institut für Luftfahrttechnik.
     Nun war sie von ganz normalen Altersgenossen umgeben. Aber die Zeit auf der Elite-Schule in Chabarowsk war nicht spurlos an
     ihr vorbeigegangen. Katja war nicht mehr fähig, unbefangen auf Menschen zuzugehen, überall witterte sie Verachtung und Ablehnung.
     Sogar mit ihren Zimmergefährtinnen im Wohnheim konnte sie nicht normal reden; sie entschuldigte sich täglich wohl vierzigmal,
     sah ihren Gesprächspartnern nicht in die Augen und erwarb sich den Ruf, »ein wenig sonderbar« zu sein. Wieder fand sie keine
     Freunde – aber diesmal nicht, weil sie eine »Zahnarzttochter« war, sondern weil sie in ihrer Verschlossenheit und Gehemmtheit
     niemanden an sich heranließ.
    Mit den Jungen wollte es auch nicht klappen. Auf Feten ging sie nicht, und im Institut bemerkte einfach niemand das kleine
     magere Geschöpf, das wie ein Schatten vorbeihuschte, den Kopf mit den kurzen roten Haaren einzog, mit niemandem redete und,
     wenn man es ansprach, rot wurde und mit schuldbewußtem Gesichtsausdruck den Blick abwandte.
    Mitja Sinizyn erschien in Katjas Leben wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie war im dritten Studienjahr. Kurz vor Silvester
     fand im Club des Instituts ein Konzert mit Liedermachern statt. Nach dem Konzert nahmen einige der Sänger die Einladung der
     munteren Studentenrunde an und fuhren mit ins Wohnheim.
    Katja lag auf ihrem Bett, allein im leeren Zimmer, und las Dostojewskis »Tagebuch eines Schriftstellers«. Sie hörte, wie im
     Nebenzimmer gesungen und gefeiert wurde, aber ihr war das egal. Plötzlich öffnete sich die Tür. Auf der Schwelle stand ein
     großer Bursche im schwarzen Pullover und in schwarzen Jeans. Die blonden lockigen Haare waren kurz geschnitten, die hellblauen
     Augen blickten fröhlich und freundlich.
    »Guten Abend«, sagte er mit tiefer, weicher Stimme. »Sie haben nicht zufällig etwas Brot?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, durchschritt er das Zimmer und setzte sich direkt auf Katjas Bett.
    »Ich glaube schon.« Katja wollte vom Bett springen, aber er hielt sie am Arm fest.
    »Sie lesen Dostojewski? Alle trinken, und Sie führen in aller Stille Zwiegespräche mit dem Dichter? Warum habe ich Sie nicht
     beim Konzert gesehen?«
    »Ich bin nicht hingegangen.« Katja sprang nun doch vom Bett und schlüpfte in ihre Schuhe. »Was für Brot wollen Sie, schwarzes
     oder weißes?«
    »Warum sind Sie nicht hingegangen? Gefallen Ihnen Liederabende nicht?« Das Brot hatte er offenbar ganz vergessen.
    »Doch, wieso? Nur … Ich wollte allein sein, ein bißchen lesen.«
    Katja stand mitten im Zimmer in ihren ausgetretenen, viel zu großen Schlappen, in einer dünnen Strumpfhose und einem weiten,
     langen Pullover.
    »Gucken Sie immer so erschrocken?« fragte er, stand vomBett auf und nahm sie bei der Hand. »Und haben

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