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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Sie immer so kalte Hände? Ich heiße Dmitri.«
    »Katja.« Sie merkte, daß sie rot wurde.
    »Sehr angenehm! Soll ich vielleicht das Brot rüberbringen und dann zurückkommen und ein bißchen mit Ihnen zusammensitzen?«
    Dieser Vorschlag kam so unerwartet, daß Katja nichts erwiderte, nur den Kopf noch tiefer einzog, ihre Hand aus seiner großen,
     warmen Pranke befreite, zum Gemeinschaftskühlschrank huschte und ein Päckchen mit einem halben Weißbrot herausholte.
    »Entschuldigen Sie, ich glaube, Schwarzbrot ist keins da«, murmelte sie und reichte ihm das Päckchen.
    Er kam fünf Minuten später zurück, in den Händen eine Gitarre.
    »Sie waren nicht beim Konzert, ich möchte für Sie singen. Drüben«, er nickte zur Wand, hinter der Gelächter und ausgelassenes
     Geschrei ertönten, »drüben sind sie alle betrunken und nicht mehr zurechnungsfähig. Gut möglich, daß nur wir beide im ganzen
     Haus noch die Fahne der Nüchternheit hochhalten.«
    Er setzte sich auf einen Stuhl, stimmte die Gitarre und begann, ihr halblaut seine Lieder vorzutragen. Katja lauschte wie
     verzaubert. Sie begriff nicht, ob die Lieder gut waren, sie verstand überhaupt kein einziges Wort, sie blickte nur in die
     freundlichen hellblauen Augen und wagte kaum zu atmen.
    Hinter der Wand ging das ausgelassene Treiben weiter. Mitja setzte sich zu Katja auf das Bett, dessen Sprungfedern kläglich
     ächzten, und legte die Gitarre beiseite. Er nahm Katjas Gesicht in die Hände und drückte seinen Mund auf ihre angespannten,
     zusammengepreßten Lippen.
    Es war der erste richtige Kuß in ihrem Leben. Obwohl sie schon zwanzig Jahre alt war, hatte sie bisher eigentlich gar nicht
     richtig gelebt, sondern nur Filme über das Leben anderer gesehen und Bücher gelesen. Sie hatte sich schonlange mit dem Gedanken abgefunden, daß sie alt werden würde, ohne von irgend jemandem beachtet oder geliebt zu werden.
    Der unbekannte Mann, der starke, schöne, romantische Prinz, küßte sie langsam und zärtlich. Mitja Sinizyn verfügte über eine
     solide Erfahrung im Umgang mit Frauen. Solche wie Katja waren allerdings noch nicht darunter gewesen. Er liebte Frauen vom
     Typ »femme fatale«, reif, selbstsicher und erfahren. Ihm gefielen die Titelbild-Schönheiten, von denen er selbst sagte: »Eine
     Frau existiert nach der Formel: Beine – Busen – Mund. Wenn sie lange Beine, einen großen, festen Busen und einen vollen Mund
     hat, ist alles übrige unwichtig. Augen, Nase, Haare können beliebig sein. Und Grips braucht sie überhaupt nicht zu haben.«
    Mit seinen achtundzwanzig Jahren hatte Mitja die Frauen, die die Natur nach dieser schlichten Formel geschaffen hatte, hinlänglich
     studiert. Heiraten, da war er sich sicher, wollte er so eine Frau allerdings nicht. »Ein Stück Seezunge heiratet man nicht!«
     erklärte er seiner Schwester Olga, wenn er mit ihr die Einzelheiten seines Liebeslebens erörterte. »Aber was soll ich machen,
     wenn mir nur solche Frauen gefallen, die man nicht heiraten kann?«
    Am ehesten empfand er wohl Mitleid, als er den mageren kleinen Spatz auf dem Wohnheimbett erblickte. Er wollte ein Weilchen
     bei ihr bleiben, mit ihr im Dunkeln sitzen, für sie singen – einfach so, ohne irgendwelche Hintergedanken. Sie lauschte ihm
     mit angehaltenem Atem, und in ihren Augen lag so viel Entzücken, Dankbarkeit und Liebe. Mitja kam sich groß, stark und gut
     vor und fühlte sich in der Rolle des Märchenprinzen sehr wohl.
    Katja schwirrte der Kopf, sie vergaß alles auf der Welt – die arroganten Mitschüler in Chabarowsk, die mürrische, abweisende
     Mutter, die Physik und die Mathematik. Plötzlich zeigte sich, daß sie ein lebendiger, zärtlicher, sinnlicher Mensch war, daß
     sie Liebe empfangen und geben konnte,daß man auch ihr mit heißen Lippen Worte ins Ohr flüstern konnte, von denen sie eine Gänsehaut bekam.
    »Habe ich recht, du bist noch Jungfrau?« hörte sie sein hitziges Flüstern, das für sie wie zauberhafte, überirdische Musik
     klang.
    Mitja erschreckte diese Entdeckung zunächst, aber einen Moment später erregte sie ihn nur noch mehr. Er hatte schon viele
     Frauen in seinem Leben gehabt, aber bis zu diesem Augenblick war er noch für keine der erste und einzige gewesen.
    Katjas taktvolle Zimmergefährtinnen kehrten erst am nächsten Morgen zurück und fanden eine ganz andere Katja vor. Erst jetzt
     sah man, wie hübsch und weiblich sie war. Sie zog den Kopf nicht mehr zwischen die Schultern, ging

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