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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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plötzlich und radikal aufzuhören. Anfangs gehe es einem sehr schlecht, aber dann würde
     sich der Organismus vollständig erholen.
    Nur die Gradskaja verlangte keine abrupten Entschlüsse. Sie war zartfühlender und rücksichtsvoller als die anderen. Sie, eine
     berühmte, geniale Therapeutin, nahm sich viel Zeit für Katja – und noch dazu völlig kostenlos. Alle übrigen verstanden Katja
     nicht, schonten sie nicht, wolltensie schrecklichen Qualen aussetzen, der Folter des Entzugs. Wem hätte sie vertrauen sollen, wenn nicht Regina Valentinowna?

Kapitel 9
    »John Codney beobachtete sein zukünftiges Opfer gewöhnlich einige Tage, studierte dessen Charakter und Eigenarten, wurde gleichsam
     zu seinem Vertrauten. Er verwandelte sich, wie er selbst es ausdrückte, in einen Schwamm, der die Energie dieses anderen Lebewesens
     aufsaugte. In der Einzelzelle des Gefängnisses von Goldsworthy im Staat Indiana schilderte Codney ausführlich und mit Behagen
     jede Nuance seiner Gefühle – vor dem Mord, dabei und danach. Von ihm stammt der bekannte Satz, den man in gerichtspsychiatrischer
     Fachliteratur immer wieder lesen kann: ›Indem ich mordete, besiegte ich den Tod.‹
    Wir haben einen Mörder vor uns, der eine eigene Philosophie hat, einen Mörder, der nicht nur imstande ist, abstrakt zu denken,
     sondern seine Gedanken auch formulieren kann. ›Von früher Kindheit an bedrückte mich das Bewußtsein von der Unausweichlichkeit
     des Todes. Gewöhnlich denken Kinder darüber nicht nach, aber ich war eine unglückliche Ausnahme. Die Menschen erschienen mir
     als Marionetten. Ein grausamer, höhnischer Schöpfer hatte sie aus schimmerndem Ton geformt, sie mit Leidenschaften und Sehnsüchten
     ausgestattet, hatte den einen mit Talent beschenkt, den anderen mit Reichtum, und manche hatte er unglücklich und mißgestaltet
     gemacht. Aber jedem hatte er im voraus seine Frist abgemessen. Jeder war verurteilt, zu Moder und Staub zu werden. Dieser
     kalte, allmächtige Jemand machte sich einen Spaß daraus, die Menschen aber verneigten sich vor ihm und nannten ihn Gott. Meine
     Mutter war eine rechtschaffene Protestantin und schleppte mich regelmäßig in die Kirche,ich aber spürte schon als kleines Kind dort nur Kälte und Tod.
    Der Tod als unausweichliche, stärkste und konkreteste Macht im Universum, als einzige Realität faszinierte mich und zog mich
     unwiderstehlich an. Ich wollte ihn wieder und wieder berühren. Der Mord war für mich ein Akt der Liebe zum Tod und des Grauens
     vor ihm. Mord aus Habgier interessierte mich nicht. Ein solcher Mord gleicht der käuflichen Liebe, der Liebe einer Prostituierten.
     Der Tod als solcher ist so bedeutsam, daß man nur um seiner selbst willen töten kann.‹«
    Lena Poljanskaja übersetzte den letzten Teil des Artikels »Die Grausamkeit des Opfers« von David Crowell und dachte, es würde
     sich sicherlich lohnen, den Text auf Kosten der blutigen Details ein wenig zu kürzen. Natürlich wußte sie, daß viele Leser
     diesen Artikel nicht wegen der Psychologie, sondern wegen der Pathologie lesen würden, mit anderen Worten, sie warteten auf
     bluttriefende und herzzerreißende Szenen. Aber Lena verursachten solche Einzelheiten mittlerweile ein Gefühl leichter Übelkeit.
    Im Nebenzimmer wachte Lisa auf und rief laut: »Mama!«
    Lena freute sich über die Ablenkung. Ein wenig Erholung von diesem philosophierenden Jack the Ripper und seinen Enthüllungen
     konnte nicht schaden.
    Während sie Lisa mit einer Hähnchenfrikadelle und Kartoffelpüree fütterte und ihr dabei das Gedicht vom Butterbrot des Königs
     aufsagte, klingelte es.
    Lena ging zur Tür, guckte durch den Spion und erblickte eine unbekannte Frau mittleren Alters. Unter ihrem offenen Mantel
     sah ein weißer Kittel hervor, am Hals baumelte ein Stethoskop.
    »Guten Tag, ich komme vom Filatow-Krankenhaus«, rief die Frau von draußen. »Wir veranstalten eine Woche der prophylaktischen
     Untersuchung von Kindern bis zu drei Jahren, als Vorbereitung für die nächste Impfung.«
    Die dem Filatow-Krankenhaus angegliederte Poliklinik war für Lenas Bezirk zuständig. Dort wurden tatsächlich ziemlich oft
     verschiedene Umfragen und prophylaktische Untersuchungen von Kleinkindern durchgeführt, deshalb öffnete Lena beruhigt die
     Tür.
    Die Frau hatte ein müdes, freundliches Gesicht – das typische Gesicht einer Bezirksärztin. Sie trug eine Brille mit billigem
     Plastikgestell und eine lila Mohairmütze, unter der

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