Die leichten Schritte des Wahnsinns
Richtungen auseinander, die einfachsten Worte wollten ihr nicht einfallen, die kleine Schrift auf
dem Bildschirm flimmerte ihr vor den Augen, und sie hatte keine Kraft zum Arbeiten. Sie schaltete den Computer aus und spülte
das Geschirr, wobei sie es fertigbrachte, ihre Lieblingstasse zu zerschlagen.
Was ist denn bloß mit mir los? dachte sie aufgebracht. Ich schlafe zuwenig. Früher oder später rächt sich das – der Kopf tut
weh, Tassen gehen kaputt, und nette Ärztinnen, die niemandem etwas getan haben, rufen meinen Unmut hervor. So geht das nicht
weiter. Jetzt nehme ich erst einmal Lisa, wir schnappen zusammen etwas frische Luft, und heute abend gehe ich früher ins Bett,
lasse Arbeit Arbeit sein und schlafe mich endlich aus.
Sie zog Lisa an und beschloß, zu den Patriarchenteichen zu gehen, wo man wenigstens eine gewisse Illusion von frischer Luft
hatte und die Wege einigermaßen sauber waren. Sie waren nicht weit weg, allerdings mußte man den Kinderwagen die Treppen der
Unterführung unter dem Gartenring hinunter- und hinaufschleppen.
»Das war eine böse Tante«, erklärte Lisa unerwartet, als Lena den Kinderwagen beherzt anhob und ihn die Stufen hinunterbugsierte.
»Wieso böse, Lisa?« fragte sie neugierig, nachdem sie die rutschige Treppe glücklich bewältigt und die Räder desWagens erleichtert auf den glatten Boden der Unterführung gestellt hatte.
»Eine schlechte Tante«, sagte Lisa finster, »böse.«
Ein etwa zwölfjähriger Junge kam ihnen entgegen, der eine riesige schwarze Dogge mit Maulkorb an der Leine führte. Lisa hüpfte
augenblicklich in ihrem Wagen hoch und schrie freudig:
»Oh, was für ein großer Hund! Warum hat er einen Schuh auf dem Gesicht?«
»Das ist ein Maulkorb«, erklärte Lena, »den legt man großen Hunden für alle Fälle an. Plötzlich gefällt dem Hund etwas nicht,
und er will beißen.«
Die Dogge mit Maulkorb war interessanter als die »böse Tante«, die Lisa schnell vergessen hatte. Lena war froh, zu diesem
Thema nicht zurückkehren zu müssen.
Mit dem Wagen die Treppe hinaufzusteigen war weniger gefährlich als hinunter, man konnte nicht so leicht auf den vereisten
Stufen ausrutschen. Dafür erforderte es jedoch erheblich mehr Kraft. Aber Lena hatte Glück, ein älterer Mann kam ihr zu Hilfe.
»Oh, das ist ja Lisa Krotowa!« hörte Lena eine Stimme hinter sich.
Als der Wagen schon oben war, tauchte neben dem Mann eine Frau mittleren Alters auf – die Bezirksärztin Swetlana Igorjewna.
Es war ihr Mann, der Lena geholfen hatte, den Kinderwagen zu tragen. Die beiden wohnten nicht weit von den Patriarchenteichen,
und Lena begleitete sie bis zu ihrem Haus.
»Heute war jemand aus der Klinik bei uns, wegen einer prophylaktischen Untersuchung, die gerade von Ihnen durchgeführt wird«,
sagte Lena.
»Von uns? Eine Untersuchung?« fragte Swetlana Igorjewna erstaunt. »Wie kommen Sie darauf? Nichts dergleichen wird im Moment
gemacht. Wer genau war denn bei Ihnen? Haben Sie nach dem Namen gefragt?«
Lena spürte eine unangenehme Kälte in der Magengegend. Sie berichtete kurz von dem Besuch, in der Hoffnung, es bestünde doch
irgendeine Beziehung zur Poliklinik.
»Wie hieß diese Frau, sagen Sie? Valentina Jurjewna?« fragte Swetlana Igorjewna aufgeregt.
Lena nickte.
»Und sie hat fast zwei Stunden bei Ihnen gesessen? Haben Sie schon nachgeschaut, ob nichts fehlt?«
»Ehrlich gesagt, daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, gestand Lena verwirrt. »Sie trug einen weißen Kittel und hatte ein
Stethoskop und hat das Kind ganz professionell untersucht.«
»Heutzutage darf man nicht so vertrauensselig sein«, sagte Swetlana Igorjewnas Mann kopfschüttelnd. »Es gibt jetzt so viele
Wohnungsdiebstähle, gut möglich, daß das eine Schnüfflerin war.«
Die Kälte im Magen wollte nicht verschwinden, es kam noch eine unangenehme Schwäche hinzu, so daß ihr die Knie zitterten.
Auf dem Nachhauseweg rief Lena sich alle Einzelheiten des Gesprächs mit der »bösen Tante« ins Gedächtnis, und in ihrem Kopf
formte sich eine seltsame Kette – von der unbekannten Frau, die sich als Kinderärztin ausgegeben hatte, zum Selbstmord, vom
Selbstmord zu Mitja Sinizyn. Lena suchte sich einzureden, daß es keinerlei Zusammenhang zwischen der falschen Ärztin und Mitjas
Selbstmord gäbe und auch keinen geben könnte. Das war alles pure Einbildung, und diese Frau hatte bestimmt nur ihre Wohnung
ausgekundschaftet. Sie mußte unbedingt
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