Die leichten Schritte des Wahnsinns
die von einem billigen Friseur gemachte Einheitsfrisur hervorschaute –
eine rotgefärbte Dauerwelle. Das Gesicht war oberflächlich geschminkt, mit der Art von Make-up, wie es ältere, nicht gerade
wohlhabende Frauen jeden Tag vor der Arbeit schnell auflegen – keineswegs aus dem Wunsch, schöner auszusehen, sondern einfach
aus langjähriger Gewohnheit.
»Wir haben eigentlich schon alle Impfungen machen lassen«, erklärte Lena, während sie der Frau aus dem Mantel half.
»Wir wollen eine zusätzliche Grippeschutzimpfung einführen«, sagte die Frau lächelnd, »für Kinder ab einem Jahr.«
»Entschuldigen Sie, wir sind gerade beim Mittagessen.«
Die Frau folgte Lena in die Küche.
»Guten Tag, Lisa«, sagte sie. »Was ißt du da?«
»Kartoffeln und Frikadelle«, erwiderte Lisa, die auf ihrem hohen Kinderstühlchen am Tisch saß.
»Nein wirklich, wie gut sie schon sprechen kann! Sie ist doch noch keine zwei?«
»Gerade vor fünf Tagen ist sie zwei geworden. Setzen Sie sich doch. Möchten Sie vielleicht einen Tee?«
»Danke, da sage ich nicht nein. Aber nicht sofort. Essen Sie erst zu Ende, dann untersuche ich Lisa, und danach trinke ich
mit Vergnügen eine Tasse Tee.«
Als die Ärztin durch den Flur ins Kinderzimmer ging, bemerkte sie durch die einen Spaltbreit geöffneteSchlafzimmertür den flimmernden Monitor des Computers und fragte:
»Mit so einem kleinen Kind schaffen Sie es tatsächlich noch zu arbeiten?«
» Ich muß«, antwortete Lena schulterzuckend.
»Ich verstehe, Sie arbeiten bei einer Privatfirma, ohne Mutterschutz und bezahlten Urlaub.« Die Ärztin schüttelte den Kopf.
»Ja, da kann man nichts machen. Wie das Sprichwort sagt: Keine Rose ohne Dornen.«
Während sie Lisa untersuchte, sie abhörte und ihr in den Mund schaute, stellte die Ärztin immer wieder beiläufig Fragen nach
Lenas Arbeit und ihrem Privatleben. Ihre Fragen waren taktvoll und unaufdringlich.
»Bei welcher Firma arbeiten Sie denn, wenn es kein Geheimnis ist?«
»Ich bin Ressortleiterin bei der Zeitschrift ›Smart‹«.
»Oh, die kenne ich … Also, wie viele Zähnchen haben wir denn?«
Sie zählte Lisas Zähne, schrieb etwas in ihr Notizbuch und kam dann wieder auf Lenas Arbeit zu sprechen.
»Und welches Ressort leiten Sie?«
»Kunst und Literatur … Wissen Sie, manchmal hat Lisa Verstopfung, ich weiß gar nicht, woher.«
»Weichen Sie ein paar Rosinen ein, lassen Sie sie vierundzwanzig Stunden in abgekochtem kaltem Wasser stehen und geben Sie
der Kleinen dreimal am Tag vor dem Essen je einen Teelöffel davon. Aber wenn es Sie sehr beunruhigt, dann lassen Sie eine
Analyse auf Dysbakterie machen. Übrigens sollten Sie das in jedem Fall machen, eine leichte Veranlagung dazu ist zweifellos
vorhanden. Kein Grund zur Sorge, aber verschleppen Sie es nicht.«
»Vielen Dank.«
Lena fiel auf, daß die Ärztin lange, spitz zugefeilte Fingernägel hatte, die blaßrosa lackiert waren. Das kam ihr etwas sonderbar
vor – gewöhnlich schnitten sich Ärzte undKrankenschwestern, die mit kleinen Kindern zu tun hatten, die Fingernägel kurz, um die Kinder nicht versehentlich zu verletzen.
Nach der Untersuchung erinnerte die Ärztin selber mit höflichem und schuldbewußtem Lächeln an den versprochenen Tee.
»Ich kann auch Kaffee machen«, schlug Lena vor.
Sie freute sich über die Gelegenheit, in aller Ruhe mit einer erfahrenen Kinderärztin reden zu können. Die Bezirksärztin Swetlana
Igorjewna war ein reizender Mensch und eine gute Ärztin, aber immer in Eile.
»Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht nach Ihrem Vor- und Vatersnamen gefragt?« Lena goß der Ärztin und sich einen starken
Kaffee ein.
»Valentina Jurjewna«, stellte die Ärztin sich vor. »Sie machen einen ausgezeichneten Kaffee. Sagen Sie, wo lassen Sie Lisa,
wenn Sie in die Redaktion gehen?«
»Bei unserer Nachbarin. Wir haben großes Glück, sie ist eine alleinstehende ältere Frau und hütet das Kind gegen ein bescheidenes
Honorar.«
»Ja«, stimmte Valentina Jurjewna zu, »das ist wirklich ein Glücksfall. Heutzutage ist es schwierig, einen zuverlässigen und
preiswerten Babysitter zu finden. Von der Kinderkrippe will ich gar nicht reden. Dort sind sie ständig krank. Zu Hause haben
Sie ein gesundes Kind, aber kaum geben Sie es in die Krippe, wird es krank.« Die Ärztin lächelte traurig und nahm einen Schluck
Kaffee. »Wie oft müssen Sie denn in der Redaktion sein?«
»Nur zwei Tage in der Woche,
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