Die leichten Schritte des Wahnsinns
hauptsächlich arbeite ich zu Hause, man kommt mir da sehr entgegen. Sagen Sie, Valentina Jurjewna,
was kann man machen, wenn ein Kind nicht einschlafen will?«
»Ihre Lisa ist doch ein sehr ruhiges Mädchen, haben Sie da etwa Probleme mit ihr?«
»Hin und wieder schon. Ich glaube, wir verwöhnen siezu sehr, manchmal darf sie bis spät nachts bei uns sitzen.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Kinder nehmen sich, was sie brauchen. Haben sie heute zu wenig gegessen und zu wenig geschlafen,
holen sie es am nächsten Tag nach. Ihr Organismus ist im Unterschied zu unserem noch weise. Und was das Verwöhnen betrifft
– wann soll man sie denn verwöhnen, wenn nicht in diesem Alter? Danach kommt die Schule, der Unterricht, Verpflichtungen …
Sagen Sie, Lena, schreiben Sie auch selber für Ihre Zeitschrift?«
»Hin und wieder. Aber hauptsächlich arbeite ich mit Autoren zusammen und übersetze.«
Lena war etwas verwundert über soviel Wißbegier, aber es machte sie nicht weiter stutzig. »Smart« war eine bekannte und beliebte
Zeitschrift, da war es natürlich für jeden interessant, bei einer Tasse Kaffee mit einer Redakteurin plaudern zu können.
Etwas seltsam war allerdings, daß diese Ärztin im Unterschied zu ihren Kolleginnen überhaupt keine Eile hatte. Sonst waren
alle diese Umfragen und prophylaktischen Untersuchungen mit viel Hektik und Lauferei verbunden, denn kleine Kinder gab es
viele, an Ärzten und Schwestern jedoch herrschte chronischer Mangel, sogar in der renommierten Filatow-Klinik.
Aber natürlich konnte man von all dieser Lauferei auch einmal müde sein, und längst nicht in jedem Haus bekam man eine Tasse
Kaffee angeboten.
»Woran arbeiten Sie denn im Moment, wenn es kein Geheimnis ist?« fragte die Ärztin.
»Im Moment übersetze ich den Artikel eines prominenten amerikanischen Psychologen.«
»Tatsächlich, wie interessant, Psychologie ist nämlich ein Steckenpferd von mir, und die zeitgenössische amerikanische Schule
ganz besonders. Wen übersetzen Sie denn?«
»Einen gewissen David Crowell. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit kriminalistischen Problemen, insbesondere mit der Psychologie
von Serienmördern.«
»Was Sie nicht sagen! Wie interessant!« Die Ärztin lachte laut auf, wurde aber sofort darauf wieder ernst. »Wissen Sie, mich
fasziniert seit kurzem die Psychologie von Selbstmördern. Der Auslöser dafür war ein schreckliches Unglück. Eine junge Frau,
Mutter von zwei Kindern, hat plötzlich Hand an sich gelegt, einfach so, ohne jeden erkennbaren Grund. Ihr Leben lief wie am
Schnürchen, ihr Mann vergötterte sie, die Kinder waren gesund, an Geld herrschte kein Mangel – und sie erhängt sich einfach.«
Lena wurde es unheimlich zumute. Sie fühlte sich sofort an Mitja Sinizyn erinnert, der sich auch ohne jeden erkennbaren Grund,
einfach so, erhängt hatte.
»Ja, es geschehen merkwürdige Dinge«, sagte sie rasch. »Noch einen Kaffee?«
Da kam Lisa weinend in die Küche gerannt.
»Mama, bei der Puppe ist der Kopf kaputtgegangen, und der blaue Ball ist weg«, teilte sie mit tragischer Miene mit.
Lena erwartete, daß die Ärztin eine weitere Tasse Kaffee ablehnen und sagen würde: »Nein, danke, für mich wird es Zeit«, aber
statt dessen folgte sie Lena ins Kinderzimmer, beteiligte sich an der Reparatur der kopflosen Gummipuppe und an der Suche
nach dem Ball, der hinters Sofa gerollt war. Dann kehrte sie in die Küche zurück, dachte gar nicht daran, den Kaffee abzulehnen,
sondern trank noch zwei Tassen und war überhaupt nicht von ihrem Thema abzubringen – der Psychologie von Selbstmördern.
Lena bereute ihre Gastfreundlichkeit schon längst, aber sie konnte die Besucherin ja nicht gut vor die Tür setzen. So blieb
die Ärztin geschlagene anderthalb Stunden bei ihr, bis sie sich endlich verabschiedete.
»Oh, verzeihen Sie, ich habe mich verplaudert! Aber es ist so interessant, sich mit Ihnen zu unterhalten …«
Als sie gegangen war, blieb bei Lena ein merkwürdiger, unangenehmer Nachgeschmack zurück. Sie begriff nicht, wieso, ihr war
einfach traurig und scheußlich zumute, alles glitt ihr aus den Händen, sie bekam sogar Kopfschmerzen.
Lisa spielte friedlich, plapperte mit sich selber und ihren Spielsachen. Lena hätte in Ruhe noch eine halbe oder dreiviertel
Stunde an ihrer Übersetzung arbeiten können. Aber kaum hatte sie sich an den Computer gesetzt, verwirrten sich ihre Gedanken
und liefen in verschiedene
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