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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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verteilt sind. Auf einen Bären zu schießen wäre Mord.«
    »Darin liegt sicherlich eine eigene Logik«, sagte Lena nachdenklich. »Aber trotzdem, das Wort ›Mord‹ bezieht sich vor allem
     auf Menschen. Sowohl im juristischen wie im moralischen Sinn.«
    »Gut, lassen wir die Bären beiseite. Was glauben Sie, gibt es einen Unterschied zwischen einem Mörder und einem normalen Menschen?
     Ich meine, kann man einen Mörder an seinem Äußeren von normalen Menschen unterscheiden?«
    »Ich glaube nicht. Gestern zum Beispiel sind wir im Straflager aufgetreten, vor Verbrechern. Darunter waren bestimmt auch
     Mörder. Am Gesicht kann man sie unmöglich erkennen. Obwohl es darüber ja verschiedene Theorien gegeben hat.«
    »Könnten Sie einen Bären töten?« fragte er.
    »Nein.«
    »Und wenn er sie angreifen würde?«
    »Ich möchte mir lieber gar nicht vorstellen, was wäre, wenn mich ein Bär angreifen würde. Ich hoffe doch sehr, daß mir so
     etwas nie zustoßen wird.«
    »Und ein Mensch?« fragte Wenja ganz leise. »Wenn ein Mensch Sie angreifen würde, könnten Sie ihn töten? Stellen Sie sich vor,
     ein Räuber, ein Vergewaltiger, ein Psychopath überfällt Sie. Sie retten sich um den Preis seines Lebens und werden dadurch
     zum Mörder. Das Gericht gibt Ihnen recht, Sie haben ja in Notwehr gehandelt. Aber trotzdem haben Sie die Grenze überschritten,
     die einen Mörder vom normalen Menschen trennt. Sie haben den Geschmack eines fremden Todes gekostet. Ich will damit sagen,
     daßdavor niemand gefeit ist. Im Leben gibt es immer wieder unerwartete Situationen. Jeder kann zum Mörder werden.«
    Wolkows Gesicht war ganz nah. Er stützte sich mit den Händen gegen die Wand der Plattform, Lenas Kopf befand sich zwischen
     seinen Armen. Er starrte ihr durchdringend und erregt in die Augen.
    »Wenja, Sie haben doch nicht etwa die Absicht, mich zu überfallen?« sagte Lena mit einem Lächeln, tauchte unter seinem Arm
     durch und stieß die Tür zum Gang weit auf. »Ein bißchen muß ich noch schlafen. Ich bin müde.«
    Ohne sich umzuschauen, ging sie rasch zum Abteil zurück. Der Zug ruckte plötzlich heftig, Lena taumelte, und sofort packte
     Wolkow sie mit festem Griff am Ellbogen und fing sie auf.
    »Verzeihen Sie mir, Lena«, hauchte er ihr ins Ohr, »das war ein dummes Gespräch.«
    »Wenja«, sagte sie, wobei sie ihn von sich schob und ihren Arm befreite, »ich mag es nicht, wenn man mir ins Ohr pustet.«
    ***
    In Tobolsk wich ihnen Wolkow nicht eine Minute von der Seite, fuhr zu allen ihren Auftritten, zeigte ihnen die Stadt und organisierte
     eine Führung durch den hölzernen Kreml.
    Die Tage waren so ausgefüllt, daß alle drei sich am Abend kaum noch auf den Beinen halten konnten, in ihre Hotelbetten fielen
     und augenblicklich einschliefen.
    Wolkow hatte ihnen die besten Zimmer in einem alten Kaufmannsgasthof besorgt. Lena und Olga hatten ein schickes Zwei-Zimmer-Appartement
     mit Kühlschrank, Fernseher und riesigem Bad. Heißes Wasser gab es allerdings auch hier nicht. Aber Wolkow führte sie in eine
     echte russische Banja.
    »Das ist so eine Art Elite-Club für Partei und Komsomol«, erklärte er. »Bei euch in Moskau amüsieren sich dieFunktionäre in der Sauna, bei uns in Sibirien zieht man das russische Dampfbad vor.«
    »Ich habe die Partei-Elite noch nie nackt gesehen«, bemerkte Olga ironisch, »weder die von Moskau noch die von Sibirien.«
    »Ich glaube nicht, daß du da viel versäumt hast, Schwesterchen«, meinte Mitja achselzuckend.
    An einer abgelegenen Stelle am Ufer des Flusses stand ein großes Holzhaus. Aus dem Schornstein qualmte es. Die Tür wurde von
     einer fülligen, rotwangigen Frau in weißem Kittel geöffnet.
    »Guten Tag, Wenjamin Borissowitsch, herzlich willkommen. Es ist alles fertig.«
    »Hallo, Sina, darf ich vorstellen, unsere Gäste aus Moskau.«
    Die Innenwände waren aus Baumstämmen. In der Mitte des Vorraums standen ein niedriger Eichentisch und riesige, tiefe Sessel,
     an den Wänden befanden sich breite Bänke, die mit frischgestärkten Laken bedeckt waren.
    »Wenjamin Borissowitsch, rufen Sie, wenn ich den Samowar bringen soll. Mädels«, wandte sich die Banja-Angestellte an Olga
     und Lena, »ihr könnt euch bei mir umziehen. Die Männer bleiben hier.«
    Sie führte sie in eine kleine gemütliche Kammer, wo leise ein Radio lief und auf einem Schemel ein großer elektrischer Samowar
     kochte.
    »Sagen Sie, Sina, warum hat man die Frauen- und die Männer-Banja nicht

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