Die leichten Schritte des Wahnsinns
Bleib bitte, ich flehe dich an. Du weißt nicht,
wie ernst es mir ist.«
»Ich kann nicht«, sagte Lena.
»Warum nicht? Sind sie der Grund?« Er wies mit dem Kopf zur Tür, hinter der Olga und Mitja warteten.
»Nein. Ich selbst bin der Grund. Ich bin zu solchen plötzlichen Gefühlsaufwallungen nicht fähig.«
»Du wirst es schön haben mit mir. Ich liebe dich so sehr, du mußt meine Gefühle erwidern. So etwas ist mir noch nie passiert.
Noch nie …«
»Wenja, vielleicht bildest du dir das nur ein? Es gibt auf der Welt so viele schöne Frauen!«
»Nein!« erwiderte er mit einem tiefen Seufzer, umarmte sie rasch und drückte sie mit aller Kraft an sich. »Für mich gibt es
nur dich. Ohne dich gehe ich zugrunde.«
»Du bist so leidenschaftlich, daß es mir Angst macht. Plötzlich überkommt es dich, und im Überschwang der Gefühle erwürgst
du mich.« Sie riß sich erneut los und öffnete die Tür.
Olga und Mitja waren nicht mehr im Flur. Und da bekam sie tatsächlich Angst.
»Olga!« schrie sie. »Mitja! Wo seid ihr?«
»Siehst du, sie haben alles begriffen und sind gegangen«, sagte Wolkow und wollte sie wieder umarmen.
»Nein, wir sind noch da«, ertönte Olgas muntere Stimme von draußen, »wir sind nur ins Treppenhaus gegangen, und da ist die
Tür zugefallen.«
»Wartet«, sagte Lena und versuchte, das englische Schloß aufzubekommen, »ich komme mit.«
»Ich bringe euch nach Hause.« Wolkow half ihr, das Schloß zu öffnen.
»Ich verstehe«, sagte er leise, als sie durch die nächtlichen Straßen zum Hotel gingen, »ich mache einen Fehler. Ich will
alles sofort, weil ich Angst habe, du fährst weg, verschwindest, und ich sehe dich nie wieder.«
»Wenja, ehrlich gesagt, ich bin keine Anhängerin von Reiseflirts. Und bitte, lassen Sie uns wieder zum ›Sie‹ übergehen.«
»Lena, von einem Reiseflirt kann keine Rede sein«, sagte er ruhig und etwas resigniert. »Du … Sie können sich gar nicht vorstellen,
wie ernst es mir ist.«
»Aber ernsthafte Beziehungen sollten anders anfangen.«
»Und wie? Sagen Sie mir, wie soll ich mich benehmen, damit Sie keine Angst vor mir haben und mich nicht zurückweisen?«
»Ich weiß nicht. Seien Sie mir nicht böse. Wir sind da, gute Nacht.«
***
Am folgenden Abend klopfte es zaghaft an der Tür des Hotelzimmers, in dem Olga und Lena wohnten.
»Herein, die Tür ist offen!« rief Olga.
Draußen stand ein untersetzter kleiner Mann von etwa dreißig Jahren.
»Guten Tag, verzeihen Sie die Störung«, sagte er verlegen, ohne einzutreten. »Ich habe gerade erfahren, daß Sie aus Moskau
sind und von meiner Lieblingszeitschrift kommen … Ich wollte Sie bitten … Entschuldigung, ich habe mich noch nicht vorgestellt
– Sacharow, Oberleutnant der Miliz.«
»Guten Tag, kommen Sie herein, genieren Sie sich nicht«, sagte Lena lächelnd.
Er trat unentschlossen ins Zimmer und lehnte die Tür hinter sich nur an.
»Es ist nämlich so, ich schreibe Erzählungen …«
»O Gott«, seufzte Olga kaum hörbar und verdrehte ausdrucksvoll die Augen.
»Ich habe sie schon an Ihre Redaktion geschickt und an die Zeitschrift ›Jugend‹«, fuhr Sacharow leise fort. »Man hat mir geantwortet,
meine Texte seien roh und müßten gründlich überarbeitet werden. Ich habe nicht verstanden, was roh heißt.«
»Roh heißt schlecht geschrieben«, erläuterte Olga.
»Könnten Sie vielleicht eine meiner Erzählungen lesen?« fragte er, den Blick gesenkt. »Für mich ist das sehr wichtig. Ich
weiß ja, an Ihre Redaktion werden Berge von Manuskripten geschickt, man liest sie gar nicht mehr und schreibt einfach Standardabsagen.«
»Das wird schwierig, wir haben wenig Zeit, morgen abend fahren wir nach Chanty-Mansijsk«, sagte Olga schulterzuckend.
»Es ist nur eine ganz kurze Geschichte, keine Sorge. Ich stehle Ihnen nicht viel Zeit.«
»Gut.« Lena nickte. »Geben Sie sie her. Kommen Sie morgen früh vorbei, so gegen neun. Ich werde sie lesen.«
»Was machst du für Blödsinn!« ereiferte sich Olga, sobald die Tür sich hinter dem Oberleutnant geschlossen hatte. »Du weißt
doch, es gibt keine gute Tat, die unbestraft bleibt. Hör dir das an!« Sie öffnete die Mappe, die Sacharow dagelassen hatte,
und las laut vor:
»An den schlanken Birken brachen die ersten zarten Blättchen auf. Eine leichte Frühlingsbrise zerzauste die goldenen Zöpfe
des rotbackigen Mädchens. Ihre vergißmeinnichtblauen Augen strahlten vor Freude und Glück.«
Olga schlug die
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