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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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berühmter Produzent war er also geworden, Eigentümer eines Konzerns. Plötzlich begann ihr Herz wie verrückt zu klopfen.
     Von einem berühmten Produzenten hatte Mitja gesprochen, ohne jedoch einen Namen zu nennen. Nein, Unsinn. Das konnte nicht
     sein.
    Als sie endlich die zerfledderte, aufgequollene Mappe mit den alten Fotos durchblätterte, stieß sie unerwartet auf eine längst
     vergessene Fotografie. Es war eine große Schwarzweiß-Aufnahme: mehrere Leute, junge Männer und Mädchen, in Arbeitskleidung
     vor einem Bauwagen. In der Mitte standen Mitja, Olga, Lena und Wenjamin Wolkow.
    Mitja blickte lächelnd direkt ins Objektiv. Olga lächelteebenfalls, sah aber zu Boden. Lena dagegen wirkte angespannt und verlegen. Sie betrachtete das Foto genauer und erkannte den
     Grund: Der neben ihr stehende große, breitschultrige Wolkow blickte sie an. Er war daher im Profil zu sehen. Unter seinem
     Blick hatte sich Lena verkrampft.
    Auf der Rückseite des Fotos stand: »Tobolsk, Juni 1982, Baubrigade ›Hoffnung‹.«
    Sie waren vor den Bauarbeitern aufgetreten. Es war einer ihrer längsten und schönsten Auftritte gewesen. Anschließend hatten
     sie im Bauwagen Tee getrunken. Vor diesem Wagen war auch das Foto gemacht worden.

Kapitel 16
    Tjumen – Tobolsk, Juni 1982
    Der Zug fuhr langsam durch die Taiga. Die Nacht war fast taghell. An Schlaf mochte keiner denken. Beim gemütlichen Rattern
     der Räder saßen sie zu viert im Abteil und tranken Tee.
    »Je weiter wir nach Norden kommen, desto heller werden die Nächte. In Chanty sind sie jetzt schon taghell.« Wenja Wolkow schnitt
     mit dem rasierklingenscharfen Fahrtenmesser die geräucherte Wurst in exakte dünne Scheiben.
    »Eine solche Wurst«, sagte Olga verträumt, »habe ich das letzte Mal im vorvorigen Sommer gegessen, während der Olympiade.«
    »Warum fangen eigentlich alle Leute, kaum daß sie im Zug sitzen, sofort an zu essen oder übers Essen zu reden?« bemerkte Wenja
     lächelnd.
    »Aus Langeweile«, meinte Mitja schulterzuckend.
    »Daß du dich langweilst, merkt man«, sagte Olga. »Du futterst schon die zehnte Wurstscheibe ohne Brot.«
    »Wenja, was war das dort für ein Haus?« fragte Lena, die aus dem Fenster in die unermeßliche Weite der Taiga schaute. »Wohnt
     hier etwa jemand?«
    »Jetzt nicht mehr«, antwortete Wenja. »Aber früher haben hier Altgläubige gelebt, Sektierer. Bis 1932 haben sie sich vor der
     Sowjetmacht versteckt. Sie hatten hier Einsiedeleien.«
    »Und was war 1932?«
    »Sie haben sich selbst verbrannt. Neun Erwachsene und drei Kinder. Eine Abteilung des NKWD wollte sie abholen. Aber irgendwer
     hat sie vorgewarnt. Da haben sie sich in einem der Höfe eingeschlossen und hinter einem Wall aus Reisig verbarrikadiert. Die
     NKWD-Leute mußten zusehen, wie sie verbrannten.«
    »Konnte man denn gar nichts tun?«
    »Nein.« Wolkow schüttelte den Kopf. »Wozu auch? Man wollte sie ja sowieso festnehmen. Na, genug davon, laßt uns trinken.«
     Er zog eine Flasche armenischen Fünf-Sterne-Kognak aus der Tasche.
    »Man lebt nicht schlecht beim Tobolsker Komsomol«, bemerkte Mitja.
    »Wir können nicht klagen.« Wolkow öffnete die Flasche und schenkte den Kognak in die leeren Teegläser ein.
    Bis Tobolsk waren es noch fünf Stunden Fahrt. Bettwäsche gab es in diesem Zug natürlich nicht. Alle legten sich in Kleidern
     schlafen.
    Als Wolkow auf die obere Pritsche kletterte, fiel ihm ein kleiner Gegenstand aus der Hosentasche. Lena hob das billige Emaillemedaillon,
     das an einem kurzen, dicken Kettchen aus einfachem Metall hing, vom Boden auf. Ein weißes Herzchen mit einer roten Rose in
     der Mitte.
    »Wenja, ist das Ihrs?« fragte sie und hielt ihm das Medaillon hin. »Die Kette ist gerissen.«
    »Ja, das gehört mir, danke.«
    Mitja hob verschlafen den Kopf, warf einen Blick auf dasarmselige Schmuckstück, das gerade in Wenjas Jeanstasche verschwand, und brummte:
    »Das tragen die Komsomolzen also anstelle von Brustkreuzen!«
     
    Lena konnte nicht einschlafen. Es war kalt und ungemütlich, so in Jeans und Bluse auf der nackten Matratze und unter einer
     feuchten Wolldecke, die nach Chlor roch. Ein schreckliches Bild stand ihr in aller Deutlichkeit vor Augen: das brennende Haus
     in der Taiga an der Eisenbahnlinie, umzingelt von Soldaten mit Gewehren im Anschlag.
    Sie stand leise auf, zog sich ihre Turnschuhe an, holte den warmen Pullover aus der Reisetasche, nahm Zigaretten und Streichhölzer
     und schlüpfte aus dem Abteil.
    Auf

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