Die leichten Schritte des Wahnsinns
Valentina Jurjewna weder eine Schnüfflerin noch eine Verrückte war.
Nicht zufällig hatte Lena sich nach dem Weggang der freundlichen Besucherin gefühlt, als wäre sie mit Röntgenstrahlen durchleuchtet
worden. Diese Frau stand mit den Leuten, die Mitja und Katja umgebracht hatten, in Verbindung. Lena war durch sie nur auf
die Probe gestellt worden, man wollte erfahren, was sie wußte und wie gefährlich sie war.
Olga dagegen konnten sie sich leicht in der Firma vornehmen, ohne daß sie es merkte. Sie erzählte ja immer, wie viele Leute
in ihrem Büro ein- und ausgingen und daß sie sich mit allen unterhalten mußte, bis der endlose Strom von Worten sich gegen
Abend in ein sinnloses Kauderwelsch verwandelte.
Im übrigen war jetzt etwas anderes wichtig. Sie mußte begreifen, warum das alles geschah und wer davon einen Nutzen hatte.
Vorläufig konnte sie nur den vorsichtigen und noch ganz vagen Schluß ziehen, daß es irgendwie mit ihrer Sibirienreise vor
vierzehn Jahren zusammenhing. Deshalb war Mitja vor einem Monat zu ihr gekommen. Er wollte etwas von ihr erfahren, aber sie
hatte das damals nicht weiter ernst genommen und gedacht, er schwelge nur in nostalgischen Jugenderinnerungen.
Lena hatte ein gutes Gedächtnis, aber die vierzehn Jahre zurückliegenden Ereignisse waren überlagert durch viele Schichten
anderer wichtiger Erlebnisse und Erfahrungen.
Vielleicht konnten Fotos ihr helfen. Von der Reise selbst waren wohl kaum welche erhalten, sie hatten keinen Fotoapparatmitgenommen, aber Fotos von der Uni mußte sie noch haben.
Alle alten Fotos lagen unter einem Haufen Trödel in einer antiken Truhe, die noch von der Urgroßmutter stammte und in der
Diele stand.
Während sie die Truhe aufräumte, machte Lena sich zum hundertstenmal bittere Vorwürfe, daß sie eine so schlampige Hausfrau
war. Als sie sich bis zum Boden der alten Truhe durchgearbeitet hatte, entdeckte sie den Pullover, den sie im Sommer 1982
nach Sibirien mitgenommen hatte. Ihr Vater hatte ihr damals zugesehen, wie sie ihren Rucksack packte, und gesagt:
»Nimm etwas Warmes mit, immerhin fährst du nach Sibirien.«
Lena hatte aus dem Schrank einen hellgrauen Pullover hervorgezogen.
»Den bitte nicht«, protestierte ihr Vater, »das ist mein Vorzeigestück, der ist noch ganz neu.«
»Dann nehme ich überhaupt nichts Warmes mit! Ich werde erfrieren!« erklärte Lena, legte dann rasch den Kopf auf seine Schulter
und sagte tröstend: »Papa, mach dir keine Sorgen, ich bringe ihn heil und unversehrt wieder mit, ich gehe ganz vorsichtig
damit um. Du willst doch nicht, daß ich erfriere.«
Ihr Vater war vor fünf Jahren gestorben, aber bis heute genügte irgendeine Kleinigkeit, ein zufälliger Gegenstand oder ein
Satz, und die Erinnerungen an ihn überfluteten alles andere, Gegenwärtige. Besonders schmerzlich war, daß ihr Vater Lisa nicht
mehr sehen konnte. Er hatte sich so sehr ein Enkelkind gewünscht, aber für ein Kind war Lenas Privatleben zu kompliziert gewesen
und ihre Arbeit zu interessant. Und sie glaubte, noch so viel Zeit zu haben.
Der Vater war nie krank gewesen. Als die Ärzte im Onkologischen Zentrum an der Kaschirskoje-Chaussee die furchtbare Diagnose
»Magenkrebs« stellten und Lenamitteilten, daß man nichts mehr tun könne und ihr Vater noch höchstens zwei Monate zu leben habe, glaubte sie es nicht. Bis
zuletzt hoffte sie, die Ärzte hätten sich geirrt, es werde ein Wunder geschehen.
Lena hatte nur ihren Vater gehabt. Er hatte sie allein großgezogen. Ihre Mutter, eine erfolgreiche Bergsteigerin, war im Elbrus-Gebirge
verunglückt, als Lena zwei Jahre alt war.
Ich war im gleichen Alter wie heute meine Lisa, dachte Lena plötzlich. Ich klettere nicht in den Bergen herum wie Mama. Aber
in meinem Leben geschieht jetzt etwas Ähnliches, etwas sehr Ernstes, Gefährliches.
Als sie aus ihren Erinnerungen auftauchte, fand sie sich in der Diele auf dem Fußboden sitzend, umgeben von Krimskrams und
Trödel, das Gesicht in dem altem Pullover des Vaters vergraben.
In diesem Pullover hatte sie vor vierzehn Jahren im Zug gesessen, auf der Stufe zur Waggontür. Sie fuhren von Tjumen nach
Tobolsk. Es war eine helle, neblige Nacht. Das Gefühl der Einsamkeit und der vorbeifliegenden endlosen Taiga hatte sich ihr
tief ins Gedächtnis gegraben. Später hatte sie ein sonderbares, unangenehmes Gespräch mit diesem Komsomolzen aus Tobolsk gehabt.
Mit Wolkow – Wenjamin Wolkow.
Ein
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