Die Leidenschaft des Cervantes
um all die Worte und Klänge des Sonetts in seiner Brust zu beschützen, um die Gefühle zu bewahren, die es in ihm geweckt hatte. Es war, als hätte ein Schwert sein Herz durchbohrt und er sterbe an unerwiderter Liebe. In dem Moment wusste ich, dass ich, auch wenn wir aus unterschiedlichen Welten stammten, aus Welten, die im Spanien unserer Jugend fast unvereinbar waren, Miguel zum Freund haben musste. Er hatte Garcilasos Strophen mit einer Inbrunst erbeben lassen, die mir sagte, dass hier jemand stand, der die Lyrik und Garcilaso ebenso liebte wie ich.
Sein Vortrag des Gedichts überraschte uns alle; bis zu dem Moment hatten wir ihn als einen bloßen grobschlächtigen Andalusier betrachtet. Einige unserer Mitschüler jubelten und beklatschten seine so tief empfundene Darbietung. Ich sah, dass Miguel dadurch binnen Minuten in der Achtung von Professor López de Hoyos stieg, einem gerühmten Kenner der Klassiker; über Nacht wurde Miguel zu seinem Liebling, obwohl er in jedem anderen Fach ein eher mittelmäßiger Schüler war. Er schien für die Lyrik zu leben, und das war in meinen Augen eine bewunderungswürdige Veranlagung, schließlich stellte die Lyrik für mich die höchste aller Künste dar.
Wenig später hörte ich zufällig ein Gespräch zwischen Professor López de Hoyos und einem anderen unserer Lehrer, und dabei nannte er Miguel »meinen geschätzten und geliebten Jünger«. Ein Stich Eifersucht durchfuhr mich, denn mir wurde klar, dass ich von nun an nur die zweite Stelle in der Gunst des Professors einnehmen würde. Ich werde ein wahrer caballero sein, sagte ich mir, und mich über kleinliche Eifersüchteleien erhaben zeigen. Ich bot Miguel meine Freundschaft offenen Herzens an.
An dem Tag verließen wir den Unterricht gemeinsam und gingen spazieren. Sobald wir in sicherer Entfernung der Schule waren, steckte sich Miguel eine Pfeife zwischen die Lippen, die allerdings nicht gestopft war. (Als ich ihn besser kennenlernte, erkannte ich, wie sehr er immer auf Wirkung bedacht war.) Er schlug vor, wir sollten uns bei einem Becher Wein in der Taverne über Dichtung unterhalten, doch das lehnte ich ab. Meine Eltern erwarteten mich jeden Tag zur selben Zeit, und es war unmöglich, dass ich beim Heimkommen nach Alkohol und Tabak roch. Stattdessen streiften wir bis zum Einbruch der Dunkelheit durch die Straßen und über die Plätze Madrids und zitierten Gedichte von Garcilaso. An dem Nachmittag wurde meine Freundschaft mit Miguel auf unserer Liebe zu Garcilaso de la Vega gegründet, dem großen Barden von Toledo, dem Fürsten der spanischen Dichtung. Keiner meiner anderen Kameraden teilte diese Leidenschaft mit mir. Garcilasos frische Sprache, die Aufrichtigkeit seiner Gefühle, seine stilistischen Innovationen – mit denen er den lyrischen Charakter der italienischen Dichtung in die erstarrte Tradition der spanischen einführte –, dazu der Umstand, dass er ein Soldat gewesen war: Durch all das wurde er für uns zum Helden. Als wir uns an dem Abend schwärmend über den edlen Toledano ergingen, sagte Miguel: »Er ist jung gestorben, noch bevor die Welt ihn verdarb.« Und ich fragte mich, ob das wohl auch Miguels Bestreben war.
Zu der Zeit kannten nur junge Barden und große Liebhaber der Dichtkunst die Werke Garcilasos. Auf jenem ersten Spaziergang gelobten wir, wie Garcilaso und Boscán zu sein (Garcilasos bester Freund, ein großer Übersetzer und Dichter). Wir waren beide der sentimentalen, mit gestelzten Konventionen überfrachteten Gedichte überdrüssig, die damals im Schwange waren, und schworen – mit Leidenschaft und Nachdruck –, dass wir die offiziellen Poeten entthronen würden, deren Namen wir derart verachteten, dass wir sie nicht nennen wollten aus Angst, unsere Lippen zu besudeln. Wir verfolgten dasselbe Ziel: Wir würden nur über eine solche Liebe schreiben, zu der uns eine lebende, atmende Frau inspirierte, eine greifbare Wirklichkeit, und nicht die hohle, gekünstelte Liebe der Dichter, die Garcilaso vorausgingen, unaufrichtige Verseschmiede, die Poeme zum »Thema Liebe« verfassten.
»Wir werden uns um das Lyrische bemühen«, sagte ich. »In unseren Gedichten werden wir unsere Gedanken und unser Herz befragen und nicht den exaltierten Unsinn schreiben, der heute in Mode ist.«
»Ja, ja«, pflichtete Miguel mir bei. »Wir sind mannhafte Dichter. Dichtersoldaten wie Garcilaso, wie Jorge Manrique und nicht wie die rührseligen Poetaster unserer Zeit.«
Langsam wurden an den
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