Die Leidenschaft des Cervantes
Werken in einem Band erschienen waren, konnte er die Tränen nicht zurückhalten, während sein Finger über das Deckblatt strich. Dann verstummte er für den Rest des Abends.
Miguel liebkoste die alten Ausgaben der Klassiker, als seien sie nicht nur wertvolle Bücher, sondern zerbrechliche Lebewesen. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Zeilen auf einer Seite nach, berührte sie sanft, wie man die Haut einer geliebten Frau zum ersten Mal streichelt. Sein Hunger auf Literatur war unstillbar. Er las Bücher innerhalb weniger Stunden, als würde er nie wieder Gelegenheit haben, sie in der Hand zu halten. Er hatte denselben Wissensdurst wie ein Kamel Durst auf Wasser hat, nachdem es endlose Tage durch die Wüste gezogen ist. Er las im Licht des Kandelabers, bis die Kerzen heruntergebrannt waren.
Obwohl meine Mutter Miguel immer wieder aufforderte, zum Essen zu bleiben, behauptete er stets, seine Eltern würden ihn erwarten. Zuerst wusste ich nicht einmal, wo er wohnte. Als ich mich danach erkundigte, deutete er vage in Richtung Stadtmitte, weg von den Türmen des Alcázar, unserer erhabenen Nachbarn. Es war ein alltäglicher Anblick, vor unserem Haus Kutschen in Begleitung von Korteges zu sehen, die die Königliche Familie oder andere Würdenträger an den einen oder anderen Ort brachten. Honorige Madrileños kamen, von ihren Sklaven in den edelsten Sänften getragen, an unserer Tür ebenso häufig vorbei wie in ärmeren Vierteln Hausierer, die Waren feilboten.
Wir waren schon monatelang eng befreundet, als Miguel mich schließlich zu sich nach Hause einlud. Er wohnte mit seiner Familie in einem zerfallenden zweistöckigen Haus bei der Puerta del Sol in einer düsteren Straße, in der es nach Kohlsuppe, Urin und Kot stank. Diese Häuser verfügten über keine Zisternen, die Bewohner mussten das Wasser vom öffentlichen Brunnen holen. In den geschlossenen Fensterläden ließ man eine Holzblende offen stehen, um das Treiben auf der Straße zu verfolgen. Es war keine Gegend von Madrid, in die sich viele Hidalgos und Duennas verirrten; hier waren Bettler zu Hause, Verstümmelte und von Eiterblasen Entstellte, die keine Schuhe besaßen, Erwachsene und Kinder, die praktisch nackt durch die Gassen schlichen und sich mit den Straßenkötern und Ratten um einen abgenagten Knochen schlugen.
Miguel hatte einmal erwähnt, dass sein Vater Chirurg war. Bei meinem ersten Besuch stellte ich allerdings fest, dass Don Rodrigo Cervantes mitnichten ein an der Universität studierter Wundarzt war, sondern einer der Bader, die mittellose Kranke zur Ader ließen. Don Rodrigos Barbierstube und Klinik bestand aus einem großen, dunklen, verseuchten Raum im Erdgeschoss des Wohnhauses. Als wir hereinkamen, war Don Rodrigo gerade mit einem Patienten beschäftigt. Miguel sagte: »Guten Nachmittag, papá «, und sein Vater nickte in unsere Richtung, ohne mich eigens zu begrüßen, als sei er derart auf seine Arbeit konzentriert, dass er mich gar nicht wahrnahm.
Wir durchquerten den stickigen Raum, in dem man die Krankheit förmlich mit der Luft einatmete. In improvisierten Betten – kaum mehr als mit etwas verdrecktem Stroh bedeckte Holzbohlen – lagen mehrere Kranke, die im Schlaf stöhnten. Wir stiegen die kaputte Holztreppe zu den Wohnräumen der Familie im ersten Stock empor. Im Salon brannte eine rauchige Öllampe, die ihr fahles Licht auf einen abgetretenen Teppich warf, darauf lagen einige verschlissene Sitzkissen, dazwischen ein aus grobem Holz gezimmerter Tisch und über der Tür ein hölzernes Kruzifix. Alles in dem Zimmer war durchdrungen vom sauren Geruch des Kohls, der die Hauptzutat im Eintopf der Armen darstellte.
Miguel führte mich in sein Zimmer, eine fensterlose Kammer, die vom Hauptraum abging; ein Vorhang aus derbem, löchrigem Stoff diente als Tür. Ich musste in die Knie gehen und den Kopf einziehen, um das Zimmer betreten zu können. Miguel teilte das eine Bett mit seinem Bruder Rodrigo, dem Jüngsten der Familie.
Als wir wieder in den Salon kamen, saß auf einem Kissen eine junge Frau, die Miguel mir als seine ältere Schwester Andrea vorstellte. In ihren Armen hielt sie ein weinendes Wickelkind. Seine andere Schwester, Magdalena, so erklärte Miguel, sei auf Besuch bei Verwandten in Córdoba. Gerade hatte er seine Ausführungen beendet, da kam seine Mutter Doña Leonor aus der Küche. Sie wirkte überrascht, mich zu sehen, das merkte ich und schloss daraus, dass in der Familie Gäste üblicherweise nicht nach oben
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