Die Leidenschaft des Cervantes
Straßenkreuzungen die Fackeln entzündet. Ich schlug allmählich den Heimweg ein, aber Miguel ging immer weiter neben mir her. Als wir unser Haus im Viertel Real Alcázar erreichten, sagte er nichts, doch ich sah, dass ihn die imposante Haustür und das alte Familienwappen aus Messing, das darauf prangte, beeindruckten. Ich fragte ihn, ob er nicht hereinkommen wolle.
»Vielen Dank für die freundliche Einladung, aber ich sollte nach Hause gehen«, sagte er. »Beim nächsten Mal.«
Wir wurden unzertrennlich, und unsere Zweisamkeit schloss alle anderen Mitschüler aus. Nahezu jeden Tag unternahmen wir lange Spaziergänge durch den Parque El Prado. Miguel richtete den Blick immer wieder auf den Boden, er suchte nach Kastanien, die er aufhob und in seinem Schulranzen verwahrte. Für mich waren sie nichts weiter als Futter, um Schweine zu mästen, doch für ihn waren sie eine Delikatesse. Sehr bald stellte ich fest, dass bei Miguel trotz seiner empfindsamen Seele und seiner unbedingten Hinwendung zur Dichtung gewaltige Lücken in seiner literarischen Bildung klafften. Er kannte Garcilasos Werke, aber sonst wenig. Seine Unwissenheit bezüglich der Klassiker, Vergil etwa und Horaz, war undenkbar für jemanden, der den Ehrgeiz besaß, nicht nur Dichter zu werden, sondern Hofdichter sogar. Garcilaso hatte diese Stelle am Hof Carlos V. innegehabt, und ich wusste, wie schwer es für Miguel werden würde, dazu ernannt zu werden, wenn seine Familie, wie es gerüchteweise hieß und was mein Großvater bestätigt hatte, konvertierte Juden waren. Das hätte der Adel um Felipe II. nie gebilligt. Die Tage der katholischen Könige, in denen der Hof Isabellas eine Zuflucht für jüdische Wissenschaftler, Ärzte und Gelehrte dargestellt hatte, waren längst vorüber; die Königin hatte dem Druck des Vatikans nachgegeben und alle Juden aus Spanien vertrieben. Wir lebten eher in einer Zeit, als in Madrid wie überall im Reich Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden.
Meine Vorfahren auf der Seite der Familie Lara stammten aus Toledo. Bereits während des Heiligen Römischen Reichs hatten meine Ahnen in Häusern und Schlössern gelebt, in denen die Bücherschränke alle Werke – ob auf Kastilisch, Griechisch, Lateinisch, Italienisch oder Arabisch – enthielten, die für die Bildung eines caballero als notwendig erachtet wurden.
Zu meinen Vorfahren gehörten Krieger, namhafte Schriftsteller und erlauchte Abenteurer, die ihr Leben gaben, um unseren Glauben auf den Schlachtfeldern Europas und bei der Eroberung Mexikos zu verteidigen. Mein Vater war zweimal zum Marquis ernannt worden. Mein Großvater hatte sich in der Schlacht bei Pavia ausgezeichnet, bei der unser Kaiser Carlos V. François I. von Frankreich geschlagen hatte. 1522 nahm mein Großvater dann auf der Insel Malta an einem Feldzug gegen die Türken teil. Dort hatte er auch mit Juan Boscán und Garcilaso Freundschaft geschlossen, die als Soldaten an dieser Kampagne beteiligt waren. Als Kind waren diese Männer für mich keine bloßen Namen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die ich selbst hätte kennenlernen können.
Meine Mutter war eine Gräfin. Ihre Familie, die Mendinuetas, war ebenso alt und angesehen wie die meines Vaters. Und meine Mutter pflegte mich zu erinnern: »Seit Generationen sind beide Seiten unserer Familie in Kutschen gefahren, die von zwei Maultieren gezogen wurden. Das ist die Herkunft, auf die wir zurückblicken.«
So redselig Miguel normalerweise war, hielt er sich sehr bedeckt, wenn wir auf seine Familie zu sprechen kamen, pecheros mit wenig Geld. Selbst die Tinte, das Papier und die Federkiele, die er für seine Hausaufgaben brauchte, stellten für ihn einen Luxus dar. Ich bot ihm an, er könne in unserer Bibliothek lesen, und sie wurde ihm zum zweiten Zuhause. Als er das erste Mal unser Haus betrat, hatte er, für mich unverkennbar, das Gefühl, nicht hierher zu gehören. In der Anwesenheit meiner Familie wurde er wortkarg.
Bücher waren für ihn ein kostbarer Schatz. Sicher, er hatte Jorge de Montemayors Schäferroman La Diana gelesen und kannte einige spanische Klassiker, doch in unserer Bibliothek hielt er zum ersten Mal Petrarcas Sonette in der Hand, Erasmus’ Colloquia und Über den Reichtum im Ausdruck sowie Boscáns Übersetzung von Castigliones Der Hofmann . Stundenlang lasen wir uns gegenseitig aus Ariosts Orlando Furioso vor. Als ich Miguel die Erstausgabe von Garcilasos Gedichten zeigte, die 1543 zusammen mit Boscáns
Weitere Kostenlose Bücher