Die Leopardin
werden zu können, setzte neue Kräfte in Flick frei. Sie begann sogar geduckt zu rennen. Ihr Ziel war die Straße auf der Südseite des Platzes, der nächste Fluchtweg. Sie lief an dem Deutschen vorbei, der auf seiner rothaarigen Flamme lag. Für Sekundenbruchteile trafen sich ihre Blicke, und Flick nahm zu ihrer Überraschung eine Mischung aus Verblüffung und widerwilliger Anerkennung in seiner Miene wahr. Dann stieß sie so heftig gegen einen
Tisch des Cafés, dass er umfiel. Auch sie selbst wäre um ein Haar gestürzt, doch im nächsten Moment hatte sie sich wieder gefangen und rannte weiter. Eine Kugel traf das Fenster des Cafés, und Flick sah noch die Bruchlinien, die sich wie ein Spinnennetz über das Glas zogen. Eine Sekunde später war sie um die Ecke und somit dem Blickfeld des Gestapo-Majors entschwunden. Überstanden, dachte sie dankbar. Wir sind beide noch am Leben – wenigstens in den nächsten Minuten.
Sie hatte noch nicht darüber nachgedacht, wohin sie sich wenden sollte, wenn sie das unmittelbare Schlachtfeld erst einmal hinter sich gebracht hatte. Ein paar Straßen weiter standen zwei Fluchtwagen bereit – aber so weit konnte sie Michel nicht tragen. In der Straße allerdings, in der sie sich jetzt befanden, wohnte Antoinette Dupert. Antoinette war kein Mitglied der Resistance, sympathisierte aber doch so sehr mit der Widerstandsbewegung, dass sie Michel sogar einen Plan des Schlosses beschafft hatte. Außerdem war Michel ihr Neffe, weshalb sie ihn gewiss nicht zurückweisen würde.
Ganz abgesehen davon blieb Flick gar keine Alternative.
Antoinette wohnte im Erdgeschoss eines Hauses mit einem Vorgarten. Nur ein paar Meter vom Stadtplatz entfernt erreichte Flick das offen stehende Tor, schwankte unter dem Torbogen hindurch, stieß eine Tür auf und ließ Michel auf die Fliesen gleiten.
Keuchend vor Anstrengung hämmerte sie mit den Fäusten an Antoinettes Tür.
Eine verängstigte Stimme meldete sich: »Was ist los?« Antoinette fürchtete sich offenbar vor der Schießerei und wollte die Tür nicht aufmachen.
»Schnell, schnell!«, rief Flick atemlos, aber doch nicht zu laut, weil sie damit rechnen musste, dass sich unter den anderen Hausbewohnern auch Nazi-Sympathisanten befanden.
Die Tür blieb verschlossen, doch Antoinettes Stimme kam näher. »Wer ist da?«
Flick vermied es instinktiv, einen Namen zu nennen. »Ihr Neffe ist verletzt«, erwiderte sie.
Jetzt endlich wurde die Tür geöffnet, und Antoinette, eine Frau von etwa fünfzig Jahren, stand in kerzengerader Haltung vor ihr. Sie trug ein Baumwollkleid, das einmal sehr chic gewesen und inzwischen verblichen, dabei aber picobello gebügelt war. Ihr Gesicht war blass vor Angst. »Michel!«, sagte sie und kniete neben ihm nieder. »Ist es schlimm?«
»Es tut höllisch weh, bringt mich aber nicht um«, antwortete Michel mit zusammengebissenen Zähnen.
»Armer Kerl!« Mit zärtlicher Geste strich sie ihm das Haar aus der schweißbedeckten Stirn.
»Wir müssen ihn rein schaffen«, sagte Flick ungeduldig.
Sie packte Michel an den Armen, und Antoinette hob ihn an den Knien hoch. Er ächzte vor Schmerz. Gemeinsam schleppten sie ihn ins Wohnzimmer und legten ihn auf ein ausgeblichenes, mit Samt bezogenes Sofa.
»Kümmern Sie sich um ihn, während ich den Wagen hole«, sagte Flick und lief wieder auf die Straße hinaus.
Es fielen nur noch wenige Schüsse. Ihr blieb nicht viel Zeit. Sie rannte los, die Straße entlang, dann bog sie zweimal um die Ecke.
Vor einer geschlossenen Bäckerei parkten zwei Fahrzeuge mit laufenden Motoren: ein rostiger Renault und ein Lieferwagen, auf dessen einer Seite ein Firmenschild mit der kaum noch lesbaren Aufschrift Blanchisserie Bisset angebracht war. Den Lieferwagen hatten sie sich von Bertrands Vater geliehen, der für die von den Deutschen benutzten Hotels die Wäsche wusch und daher Anspruch auf Benzin hatte. Der Renault war am Vormittag in Chalons gestohlen worden; Michel hatte die Nummernschilder ausgewechselt. Flick entschloss sich für den Pkw. Der Lieferwagen, dachte sie, bleibt besser denen vorbehalten, die das Gemetzel vor dem Schloss überlebt haben.
Zu dem Fahrer des Wäschereiwagens sagte sie: »Warten Sie noch fünf Minuten, dann verschwinden Sie.« Dann lief sie zu dem Pkw, ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und sagte: »Fahr los!«
Am Steuer des Renaults saß Gilberte, eine Neunzehnjährige mit langen, dunklen Haaren. Hübsch, aber doof. Flick hatte keine Ahnung, warum sie bei
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