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Die Leopardin

Titel: Die Leopardin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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geblieben.
    Und deshalb war Flick gekommen.
    Das Schloss lag auf der Nordseite des Platzes und war mit einer hohen Mauer aus Steinpfeilern und schmiedeeisernen Gittern umgeben, die von uniformierten Posten bewacht wurde. Auf der Ostseite des Platzes stand eine kleine mittelalterliche Kirche, deren uralte Holztüren geöffnet waren, um die Sommerluft und die allmählich eintrudelnde Gemeinde einzulassen. Der Kirche gegenüber, auf der Westseite des Platzes, befand sich das Rathaus; dort regierte ein ultrakonservativer Bürgermeister, dem man nur selten einmal eine Meinungsverschiedenheit mit den Nazi-Besatzern nachsagen konnte. Den südlichen Abschluss des Platzes bildete eine Ladenzeile mit einem Straßencafe, dem Cafe des Sports. Dort saß Flick im Freien und wartete auf den letzten Glockenschlag. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Glas Wein aus der Region, schlank und leicht, wie er für die Gegend typisch war. Sie hatte noch nicht einmal daran genippt.
    Felicity Clairet war Offizier der britischen Armee im Range eines Majors. Offiziell gehörte sie zur First Aid Nursing Yeomanry, einer ausschließlich aus Frauen bestehenden Sanitätseinheit, die geradezu zwangsläufig die FANYs genannt wurden. Aber das war nur Flicks Tarnung. In Wirklichkeit arbeitete sie für eine geheime Organisation, die so genannte Special Operations Executive (SOE), die für Sabotageaktionen hinter den feindlichen Linien zuständig war. Mit ihren achtundzwanzig Jahren gehörte Flick bereits zu den dienstältesten Agentinnen, und sie spürte nicht zum ersten Mal die Nähe des Todes. Doch obwohl sie längst gelernt hatte, mit diesem Gefühl zu leben und mit ihren Ängsten umzugehen, war ihr beim Anblick der Stahlhelme und großkalibrigen Waffen der Wachtposten vor dem Schloss, als lege sich eine eiskalte Hand auf ihr Herz.
    Noch vor drei Jahren war es ihr höchster Ehrgeiz gewesen, einmal als Professorin für französische Literatur an einer britischen Universität zu unterrichten. Sie wollte ihren Studenten die Kraft eines Victor Hugo, den Esprit eines Gustave Flaubert, die Leidenschaft eines Emile Zola nahe bringen. Doch dann hatte sie einen Job im Kriegsministerium angenommen und Dokumente aus dem Französischen übersetzt – bis sie eines Tages zu einem mysteriösen Gespräch in ein Hotelzimmer bestellt und gefragt worden war, ob sie bereit sei, einen gefährlichen Auftrag zu übernehmen.
    Ohne viel darüber nachzudenken, hatte sie zugesagt. Es herrschte Krieg, und all ihre männlichen Freunde und Kommilitonen aus Oxford riskierten Tag für Tag ihr Leben – warum sollte sie da abseits stehen? Zwei Tage nach Weihnachten 1941 hatte sie mit der Ausbildung bei der SOE begonnen.
    Sechs Monate später war sie Kurier und übermittelte Botschaften vom Hauptquartier der SOE – 64 Baker Street, London – an verschiedene Resistance-Gruppen im besetzten Frankreich. Funkgeräte waren in jenen Tagen noch selten, und Leute, die damit umgehen konnten, noch seltener. Felicity wurde wiederholt mit dem Fallschirm über Frankreich abgesetzt, mischte sich mit ihren falschen Papieren unters Volk, nahm Kontakt zur Resistance auf, übermittelte Befehle, notierte Antworten, Beschwerden und Wünsche nach Waffen und Munition. Am Ende ihrer Mission wurde sie jeweils von einem Kleinflugzeug – meistens einer dreisitzigen Westland Lysander – abgeholt, das auf einem fünfhundert Meter langen Grasstreifen starten und landen konnte.
    Der Kuriertätigkeit waren anspruchsvollere Aufgaben gefolgt: Inzwischen war sie mit der Planung und Ausführung von Sabotageakten betraut. Die meisten SOE-Mitarbeiter waren Offiziere, und in der Theorie ging man davon aus, dass die jeweiligen örtlichen Resistance-Gruppen ihre »Untergebenen« waren. In der Praxis jedoch bewegte sich die Resistance außerhalb militärischer Befehlsstrukturen, und jeder Agent musste sich erst einmal die Kooperationsbereitschaft der Gruppen verdienen, indem er Härte, Sachkenntnis und Autorität bewies.
    Die Arbeit war gefährlich. Flick hatte ihre Ausbildung gemeinsam mit sechs Männern und drei Frauen absolviert – jetzt, zwei Jahre später, war sie die Letzte, die noch im Einsatz war. Von zweien wusste man, dass sie tot waren: Einen hatte die Milice, die verhasste französische Sicherheitspolizei, erschossen; der andere war umgekommen, weil sein Fallschirm sich nicht geöffnet hatte. Die anderen sechs waren nach ihrer Gefangennahme verhört und gefoltert worden und schließlich in irgendwelchen Lagern

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