Die Leopardin
in Deutschland verschwunden. Flick hatte überlebt, weil sie skrupellos, reaktionsschnell und bis an die Grenze zum Verfolgungswahn auf Sicherheit bedacht war.
Neben Felicity saß Michel – ihr Ehemann und Anführer einer Resistance-Zelle mit dem Decknamen Bollinger, die in der fünfzehn Kilometer entfernten Kathedralenstadt Reims beheimatet war. Obwohl es auch für Michel in wenigen Minuten um Leben und Tod gehen würde, hatte er sich lässig in seinem Stuhl zurückgelehnt, den rechten Knöchel aufs linke Knie gelegt, und in der Hand hielt er ein Glas mit blassem, verwässertem Kriegsbier.
Felicity war Studentin an der Sorbonne gewesen und saß gerade an ihrer Dissertation über die Moral in den Werken Molieres – eine Arbeit, die sie bei Kriegsausbruch unterbrach –, als Michels unbekümmertes Lächeln ihr Herz gewonnen hatte. Dem jungen, immer etwas zerzaust wirkenden Philosophiedozenten las in jenen Tagen eine ganze Heerschar glühender Verehrer unter den Studenten jedes Wort von den Lippen ab.
Michel war noch immer der attraktivste Mann, dem Flick je begegnet war – groß und schlank, mit einer Vorliebe für die lässige Eleganz zerknitterter Anzüge und ausgewaschener blauer Hemden.
Seine Haare waren nach wie vor eine Spur zu lang, und seine Schlafzimmerstimme sowie der durchdringende Blick seiner blauen Augen vermittelten einem Mädchen das Gefühl, sie sei die einzige Frau auf der Welt.
Der aktuelle Auftrag war für Felicity eine willkommene Gelegenheit gewesen, ein paar Tage bei ihrem Mann zu verbringen, doch war ihre Begegnung nicht sehr glücklich verlaufen. Obwohl sie sich nicht direkt gestritten hatten, empfand sie Michels Zuneigung als halbherzig, so als spiele er ihr nur etwas vor. Das hatte sie gekränkt. Instinktiv spürte sie, dass er sich für eine andere interessierte. Er war erst fünfunddreißig, und sein etwas ungehobelter Charme verfing noch immer bei jungen Frauen. Dass sie seit ihrer Hochzeit des Krieges wegen mehr Zeit getrennt als miteinander verbracht hatten, machte die Sache nicht besser. In Frankreich gibt es viele willige Mädchen und Frauen, dachte Felicity missmutig, sowohl innerhalb der Resistance wie außerhalb.
Sie liebte Michel noch immer, allerdings anders als früher. Sie betete ihn nicht mehr an wie noch in ihren Flitterwochen, und sie hatte auch nicht mehr den glühenden Wunsch, ihr ganzes Leben allein seinem Glück zu widmen. Der Morgennebel romantischer Liebe war verflogen, und im klaren Licht des Ehealltags erkannte sie, dass Michel eitel, selbstverliebt und unzuverlässig war. Und trotzdem: Wenn er sich dazu herabließ, ihr seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, hatte sie noch immer das Gefühl, einzigartig, schön und geliebt zu sein.
Sein Charme ließ auch Männer nicht ungerührt. Michel war ein hervorragender Menschenführer, voller Mut und Charisma. Er hatte mit Flick gemeinsam den Schlachtplan entwickelt: Sie wollten das Schloss von zwei Seiten angreifen und dadurch die Verteidiger aufspalten. Auf dem Schloßhof würden sie sich dann wieder sammeln, mit vereinten Kräften den Keller stürmen und dort den Raum mit den wichtigsten Installationen in die Luft jagen.
Antoinette Dupert, der Chefin der aus lauter einheimischen Frauen bestehenden Putztruppe, die jeden Abend im Schloss sauber machte, verdankten sie den Plan des Gebäudes. Madame Dupert war überdies Michels Tante. Die Arbeit des Reinigungstrupps begann um 19 Uhr, zur Zeit des Abendläutens. Felicity sah, wie die ersten Frauen den Wachhabenden am schmiedeeisernen Tor ihre Sonderpassierscheine präsentierten. Antoinettes Skizze zeigte den Eingang zum Keller, enthielt aber keine weiteren Details, denn der Keller war Sperrzone; er durfte nur von Deutschen betreten werden und wurde von Soldaten gereinigt.
Michels Angriffsplan beruhte auf Informationen des britischen Geheimdiensts MI6, aus denen hervorging, dass das Schloss von einer Einheit der Waffen-SS bewacht wurde. Es handelte sich um sechsunddreißig Mann, die in drei Schichten zu je zwölf ihren Dienst verrichteten. Die Gestapo-Beamten im Gebäude waren keine Kampftruppen, und die meisten von ihnen trugen nicht einmal Waffen. Die Bollinger-Gruppe hatte fünfzehn Mann für den Angriff zusammentrommeln können, die inzwischen ihre Positionen eingenommen hatten – teils unter den Kirchgängern, teils als sonntägliche Spaziergänger auf dem Platz verteilt. Ihre Waffen verbargen sie unter ihren Kleidern, in Taschen oder Beuteln. Wenn die
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