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Die letzte Delikatesse

Die letzte Delikatesse

Titel: Die letzte Delikatesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Muriel Barbery
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Geburtstag, vor langer, langer Zeit, scheint mir. Paul tritt leise ins Zimmer. Von all meinen Nichten und Neffen ist er der einzige, den ich liebe und schätze, der einzige, dessen Anwesenheit ich in den letzten Stunden meines Lebens dulde und dem ich, wie auch meiner Frau, meine Verwirrung anvertraut habe, solange ich noch sprechen kann.
    »Ein Gericht? Eine Nachspeise?« hat Anna mit schluchzender Stimme gefragt.
    Ich ertrage es nicht, sie so zu sehen. Ich liebe meine Frau, wie ich die schönen Gegenstände meines Lebens stets geliebt habe. So ist es nun einmal. Als Besitzer habe ich gelebt, als Besitzer werde ich sterben, ohne Gemütsregung und ohne sentimentale Neigungen, ohne die leisesten Gewissensbisse, daß ich auf diese Weise Vermögen angehäuft, Seelen und Geschöpfe erobert habe, wie man ein wertvolles Gemälde erwirbt. Kunstwerke haben eine Seele. Vielleicht habe ich ebendeshalb, weil ich weiß, daß man sie nicht auf ein simples mineralisches Leben, auf die leblosen Elemente reduzieren kann, aus denen sie sich zusammensetzen, nie die geringste Scham darüber empfunden, Anna als das schönste unter ihnen zu betrachten, sie, die mit ihrer ziselierten Schönheit und ihrer würdevollen Zärtlichkeit vierzig Jahre lang die Räume meines Reichs erhellte.
    Ich mag sie nicht weinen sehen. An der Schwelle zum Tod spüre ich, daß sie etwas erwartet, daß sie unter diesem sich am Horizont der nächsten Stunden abzeichnenden nahen Ende leidet und daß sie fürchtet, ich könnte in der gleichen Kommunikationslosigkeit dahinscheiden, die wir seit unserer Heirat pflegen – der gleichen, nun aber definitiven, unwiderruflichen Kommunikationslosigkeit, ohne die Hoffnung, ohne das Alibi, morgen sei vielleicht ein anderer Tag. Ich weiß, daß sie all das denkt oder fühlt, aber das kümmert mich nicht. Wir haben uns nichts zu sagen, sie und ich, das wird sie akzeptieren müssen, wie ich es gewollt habe. Ich möchte nur, daß sie das so versteht, damit es für sie weniger qualvoll, vor allem aber, damit es für mich nicht so unangenehm ist. Nichts ist jetzt noch von Bedeutung. Nichts außer jenem Geschmack, dem ich im Vorhof meines Gedächtnisses nachstelle und der, erzürnt über einen Verrat, an den ich mich nicht einmal erinnere, mir widersteht und sich hartnäckig entzieht.

Laura
Rue de Crenelle, Treppenhaus
     
     
    Ich erinnere mich an den Urlaub in Griechenland, als wir Kinder waren, auf Tinos, jener gräßlichen verbrannten und dürren Insel, die ich auf den ersten Blick haßte, vom ersten Schritt an, den ich auf festem Boden tat – nachdem wir die Schiffsbrücke verlassen, Meer und Wind hinter uns gelassen hatten …
    Eine große, grauweiße Katze war auf die Terrasse gesprungen und von dort mit einem Satz auf die kleine Mauer, die unser Ferienhaus vom unsichtbaren Haus des Nachbarn trennte. Eine große Katze: für die Verhältnisse des Landes war sie bemerkenswert. In der Umgebung wimmelte es von ausgemergelten Tieren, die mit hin und her baumelndem Kopf so kraftlos dahinschlichen, daß es mir das Herz zerriß. Diese hier schien jedoch das Gesetz des Überlebens sehr schnell erfaßt zu haben: Sie hatte die Hürde der Terrasse überwunden, war bis zur Tür des Eßzimmers gelangt, hatte sich erkühnt, ins Innere vorzudringen, wo sie sich als Richter und Rächer schamlos auf das Brathähnchen stürzte, das auf dem Tisch thronte. Wir ertappten sie dabei, wie sie sich an unserem Essen gütlich tat, und sie wirkte gar nicht sonderlich erschrocken, wollte uns höchstens günstig stimmen, bis sie mit den Zähnen in einem kräftigen, sachkundigen Ruck rasch einen Flügel abgerissen und sich mit ihrer Beute in den Lefzen durch die Fenstertür davongemacht hatte, wobei sie zur größten Freude von uns Kindern unwillkürlich fauchte.
    Er war natürlich nicht da. Er würde in einigen Tagen aus Athen zurück sein, wir würden ihm die Anekdote erzählen – Mama würde sie ihm erzählen, blind für seine geringschätzige Miene, seine fehlende Liebe –, er würde nicht hinhören, wäre schon bereit, zu einem weiteren Gelage aufzubrechen, weit weg, am anderen Ende der Welt: ohne uns. Er würde mich gleichwohl mit einem Aufblitzen der Enttäuschung in den Augen anblicken, wenn es nicht Abneigung war, oder Grausamkeit vielleicht – wohl alle drei gleichzeitig –, und würde zu mir sagen: »Da siehst du, wie man überlebt, diese Katze ist ein lebendes Beispiel«, und seine Worte wären wie ein Schlag ins Gesicht, Worte, die

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