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Die letzte Delikatesse

Die letzte Delikatesse

Titel: Die letzte Delikatesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Muriel Barbery
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verraten wollte, sondern weil ich überzeugt war, ein Hochstapler zu sein, der sich in den Olymp verirrt hatte, der versehentlich eingeladen worden war und dessen armselige Geistlosigkeit jeden Moment vor aller Augen zutage treten würde. So schwieg ich während der ganzen Mahlzeit, und er drängte mich nicht, sondern reservierte die Peitsche oder die Liebkosung seiner Dekrete für die Gemeinde der regelmäßigen Gäste. Beim Nachtisch indessen wandte er sich schweigend an mich. Alle deutelten erfolglos an einer Kugel Orangensorbet herum.
    Erfolglos: Jedes Kriterium ist subjektiv. Was mit der Elle des gesunden Menschenverstandes gemessen magisch und meisterhaft erscheint, muß am unerbittlichen Maßstab des Genies erbärmlich zerbrechen. Ihre Konversation war überwältigend; die Kunst des Redens übertrumpfte die Kunst des Kostens. Mit der Bravour und Akkuratesse ihrer Kommentare, der Virtuosität ihrer meisterlich beherrschten Tiraden, die das Sorbet mit Syntaxblitzen, mit poetischen Funken durchschlugen, versprachen sie alle, eines Tages die Meister des kulinarischen Wortes zu werden, die durch die Aura ihres Ältesten nur vorübergehend in den Schatten gedrängt worden waren. Doch die ungleichmäßige orangefarbene Kugel mit ihrer fast klumpigen Oberfläche schmolz im Teller immer weiter und trug als lautlose Lawine etwas von seiner Mißbilligung davon. Nichts war ihm recht.
    Er ist gereizt, einer ernsthaften Verstimmung, ja fast der Selbstverachtung nah, sich überhaupt auf eine so triste Gesellschaft eingelassen zu haben … seine finsteren Augen fixieren mich, fordern mich auf … ich räuspere mich, starr vor Schrecken und rot vor Verlegenheit, denn zu diesem Sorbet fällt mir zwar manches ein, aber bestimmt nicht das, was hier gesagt werden kann, in diesem gerissenen Konzert, diesen hochstaplerischen Phrasierungen, im Kreise dieser Gourmet-Strategen, vor diesem leibhaftigen Genie mit der unsterblichen Feder und dem glühenden Blick. Und doch muß es jetzt sein, ich muß etwas sagen, und zwar sofort, denn seine ganze Person strahlt Ungeduld und Verärgerung aus. Ich räuspere mich also erneut, befeuchte die Lippen, fasse mir ein Herz.
    »Es erinnert mich an die Sorbets, die meine Großmutter machte …«
    Auf dem selbstgefälligen Gesicht des jungen Mannes mir gegenüber der Ansatz eines spöttischen Lächelns, dazu ein leichtes Aufblähen der Backen, Vorwegnahme des tödlichen Gelächters, einer Abfuhr erster Klasse: Guten Tag, auf Wiedersehen, Monsieur, Sie sind gekommen, kommen Sie nicht wieder, einen recht guten Abend.
    Er aber lächelte mir mit unvermuteter Wärme zu, ein breites, offenes Lächeln, das Lächeln eines Wolfs, doch von Wolf zu Wolf, in der Verbundenheit der Meute, freundschaftlich, entspannt, etwa in der Art: Guten Tag, mein Freund, wie schön, sich zu finden. Und er sagt zu mir: »Erzählen Sie mir doch von Ihrer Großmutter.«
    Das ist eine Ermunterung, aber auch eine versteckte Drohung. Auf dieser scheinbar wohlwollenden Aufforderung lasten die Notwendigkeit, daß ich ihr nachkomme, und die Gefahr, daß ich ihn nach einer so schönen Einleitung enttäusche. Meine Antwort hat ihn angenehm überrascht, sie hebt sich von den Bravourstücken der Meistersolisten ab, das gefällt ihm. Fürs erste.
    »Die Küche meiner Großmutter …«, sage ich und ringe verzweifelt nach Worten, auf der Suche nach der entscheidenden Formel, die sowohl meine Antwort als auch meine Kunst – mein Talent – rechtfertigen wird.
    Doch unerwartet kommt er mir zu Hilfe.
    »Stellen Sie sich vor« (er lächelt mir beinahe liebevoll zu), »ich hatte auch eine Großmutter, deren Küche für mich ein magischer Zufluchtsort war. Ich glaube, meine ganze Karriere wurzelt in den Düften und Gerüchen, die ihr entströmten und die mich als Kind verrückt machten vor Verlangen. Buchstäblich verrückt vor Verlangen. Man weiß gar nicht, was das ist, das Verlangen, das echte Verlangen, wenn es einen hypnotisiert, wenn es sich der Seele voll und ganz bemächtigt und sie von allen Seiten umgarnt, bis man ein Dämon ist, ein Besessener, zu allem bereit für ein Krümchen, ein Tröpfchen von dem, was da zusammengebraut wird, unter der eigenen Nase, die von den Teufelsdüften völlig hingerissenen ist! Und dann sprühte sie vor Energie, vor verheerend guter Laune, vor ungeheurer Lebenskraft, die ihrer ganzen Küche eine flammende Vitalität verlieh, so daß ich das Gefühl hatte, im Kern einer schmelzenden Materie zu sein, sie

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