Die letzte Flucht
unbekannte Mithörer am Laptop meldete sich wieder.
Fragen Sie ihn, wie viel Prozent seine Firma für die Forschung ausgibt.
»Wie viel gibt Ihre Firma für Forschung und Entwicklung neuer Medikamente aus?«
»Nun, Peterson & Peterson ist ein forschendes Arzneimittelunternehmen. Wir sind aus der Forschung entstanden. Der Firmengründer …«
Lassen Sie sich nicht totquatschen. Fragen Sie, wie viel Prozent Peterson & Peterson für Forschung und Entwicklung ausgibt.
»Wie viel Prozent, Assmuss? Wie viel Prozent Ihres Gewinnes stecken Sie in Forschung und Entwicklung?«
Assmuss sah ihn gequält an.
»Zehn Prozent«, brachte er schließlich heraus. »Zehn Prozent stecken wir in die Forschung.«
Fragen Sie ihn, wie viel von diesen zehn Prozent in echte Innovationen gehen und wie viel in Scheininnovationen.
»Assmuss, von diesen zehn Prozent – wie viel verwenden Sie, um wirklich neue Medikamente zu erforschen?«
»Um ehrlich zu sein«, sagte Assmuss, »stecken wir fast alles in Nachfolgeprodukte unserer patentgeschützten Medikamente.«
Er senkte den Kopf. Dann blitzte helle Empörung aus ihm heraus: »Wissen Sie, was die Entwicklung eines neuen Medikamentes wirklich kostet? Die Studien? Die Zulassungen? Es rechnet sich einfach nicht.«
»Wollen Sie mir damit sagen, dass Sie die Forschung nach neuen Medikamenten eingestellt haben? Dass Sie nicht mehr wirklich forschen?«
Assmuss gewann seine Fassung zurück. In einem fast belehrenden Ton sagte er: »Forschung nach neuen Substanzen sind Kosten. Kosten sind ein beständig zu eliminierendes Element.«
»Das heißt, Sie erklären mir gerade, dass dieses System funktioniert? Ich meine, Sie verkaufen immer nur Abwandlungen der immer gleichen Arzneien?«
Assmuss schwieg, fast ein wenig beleidigt.
Erneut erschien eine Meldung auf Henrys Bildschirm:
Fragen Sie ihn, wie viel sein Konzern für Marketing und Werbung ausgibt.
»Wie viel geben Sie für Marketing und Werbung aus?«
»Für Marketing und Werbung? Round about vierzig Prozent«, sagte Assmuss.
»Viermal so viel für Werbung wie für Forschung?«
»So funktioniert unsere Branche nun einmal. Wir haben ein Innovationsloch. Niemand weiß das besser als die Vorstände der großen Pharmakonzerne.«
»Aber sie forschen ja auch kaum mehr …«
»Es ist billiger, alte oder ältere Medikamente zu recyceln, als neue zu entwickeln. Leider ist das so.«
»Und die wenigen neuen Substanzen? Wo kommen die her?«
»Nun, wir beobachten sehr genau, was an den staatlichen Universitätskliniken geschieht. Dort wird geforscht. Wir haben das ganz gut im Griff. Eine eigene Abteilung bei uns steuert das. Wir sponsern systematisch Institute, Lehrstühle, Kolloquien und Studien.«
»Und dann?«
»Dann kaufen wir die Ergebnisse. Oder nehmen sie in Lizenz. Wissen Sie«, Assmuss beugte sich nach vorn und sprach nun leise, »die Unikliniken sind froh, wenn wir ihnen drei oder vier Millionen zahlen. Das ist für die viel Geld.«
»Es gibt keinen Aufschrei in der Wissenschaft, wenn sie so übers Ohr gehauen werden?«
»Sie kennen diesen Betrieb nicht, nicht wahr, Henry?«
»Nein.«
»Viele Institute von deutschen Universitätskliniken hängen von Drittmitteln ab. Von unserem Geld also. Arbeitsplätze, Karrieren junger Wissenschaftler sind direkt davon abhängig. Wir achten darauf, dass gerade junge Forscher schon früh den Umgang mit Drittmitteln lernen. Sie müssen es für selbstverständlich erachten, dass ohne Drittmittel nichtsgeht. Dies entwickelt antizipative Umgangsformen bei den Wissenschaftlern.«
»Erläutern Sie das.«
»Beide Seiten sind klug genug zu wissen, wie es läuft. Man muss nicht mehr darüber reden. Wir geben das Geld und wir lassen wissen, wie wir uns das Ergebnis einer Studie oder was auch immer vorstellen. Die jungen Leute merken bald: Wenn sie sich mit uns gutstellen, geht es voran, gibt es Geld, gibt es neue Stellen.«
»Aber diese Forschung wurde doch von den Bürgern aus Steuergeldern bezahlt?«
Assmuss nickte.
»Von uns nur zu einem kleinen Teil.«
»Und was machen Sie daraus?«
»40 Prozent«, sagte Assmuss.
[Menü]
32. Am Abend
»Nicht rennen«, sagte der Revolutionär. »Sonst fallen wir auf.«
Sie gingen schnell. Niemand beachtete sie inmitten der vielen Menschen.
Es wurde erst langsam dunkel. Die S- und U-Bahnen spien müde Gesichter aus, Leute, die von der Arbeit kamen, Touristen, die den Prenzlauer Berg besichtigt hatten und nun zurück in ihre Hotels strömten. Es war warm.
Weitere Kostenlose Bücher