Die letzte Lagune
mehr Licht in
den Raum zu lassen. Eine Brise, die geradewegs aus Sibirien zu
kommen schien, strich in die Küche, und auf dem Schnurrbart
des dottore funkelten Eiskristalle. Offenbar
hatte der medico legale seine Untersuchung
gerade beendet, denn er erhob sich ächzend und gut gelaunt in
einer Wolke aus weißer Atemluft. Aus Gründen, die Tron
nie recht verstanden hatte, versetzte der Anblick einer Leiche den
Doktor jedes Mal in gehobene Stimmung.
Auch jetzt blickte er
Tron fröhlich an, während er seine Handschuhe aus
weißer Baumwolle abstreifte. «Sauber, sauber»,
sagte er in heiterem Ton. Er rieb sich anerkennend die
Hände.
«Was?»
Dr. Lionardo
lächelte. «Die Hinrichtung,
Commissario.»
«Warum sprechen
Sie von einer Hinrichtung?»
«Weil es weder
Abwehrverletzungen noch irgendwelche anderen Wunden am Körper
des Toten gibt», sagte Dr. Lionardo. «Das Opfer muss
völlig überrascht gewesen sein. Der Einschusskanal an der
Schläfe geht in Richtung der Stirn. Vermutlich ist der
Täter von hinten an sein Opfer herangetreten. Dann hat er, um
sicher zu sein, noch einmal in das linke Auge des Opfers gefeuert.
Der Mörder verstand etwas von Anatomie.»
«Können Sie
sagen, welche Waffe er benutzt hat?»
Der Doktor
schüttelte den Kopf. «Nicht vor der Sektion. Aber es
gibt keine Austrittswunden. Die Projektile stecken noch im
Schädel.»
«Also ein
kleines Kaliber?»
Dr. Lionardo nickte.
«Möglicherweise hat der Mann eine Derringer benutzt. Und
deshalb ein zweites Mal gefeuert.»
«Was ist mit dem
Zeitpunkt der Tat? Signorina Lupi sagt, sie hätte Petrelli
Sonnabendnachmittag zum letzten Mal gesehen.»
«Der Tod liegt
auf jeden Fall länger als vierundzwanzig Stunden
zurück.»
«Also
könnte Petrelli bereits Sonnabendnacht erschossen worden
sein?»
Dr. Lionardo hob die
Schultern. «Könnte», sagte er
knapp.
«Was bedeuten
würde, dass der Täter nach dem Einbruch auf ihn in der
Wohnung gewartet hat», sagte Bossi. «Er hat ihn
getötet und ist mit dem Glas verschwunden.»
Andere
Gerichtsmediziner, dachte Tron, wären hier neugierig geworden
und hätten sich nach dem Glas und den näheren
Umständen der Tat erkundigt. Aber Dr. Lionardo hatte sein
Interesse immer strikt auf die medizinischen Aspekte der Taten
beschränkt. Tron bezweifelte, dass der Doktor überhaupt
zuhörte, wenn er sich mit Bossi am Tatort
unterhielt.
«Sind Sie
fertig, Dottore?», erkundigte er sich. Die Frage war
überflüssig, denn der medico legale hatte seine
Instrumententasche bereits wieder verschlossen. Er nickte nur kurz,
dann rief er nach seinen beiden Gehilfen, die bereits im Flur
gewartet hatten.
Als die Gehilfen mit
dem Sarg die Küche betraten, beobachtete Tron nicht zum ersten
Mal, wie sie eine Leiche auf die dunkelroten Samtpolster betteten.
Es war derselbe Sarg, den sie bei ihren Einsätzen immer
benutzten, eigentlich nur eine schwarze, längliche Kiste mit
aufgemaltem Palmzweig und zwei Griffen aus Messing an den
Seiten.
Tron und Bossi
begleiteten Dr. Lionardo und seine Gehilfen aus dem Haus und sahen
zu, wie der Sarg zu einem Schlitten getragen wurde, der auf der
Eisfläche unter der Kaimauer stand. Einen Moment lang hatte
Tron den Eindruck, dass sich der dottore auf den Sarg setzen würde.
Aber er tat es nicht, sondern hob nur kurz die Hand zum Abschied,
bevor er dem Schlitten folgte.
*
«Was halten Sie
davon, Commissario?»
Sie hatten sich auf
den Fondamenta Nuove nach rechts gewandt, um zur Questura zu
laufen. Am Rio di Santa Giustina - gefegt und gestreut - war Bossi
stehen geblieben und blickte nun versonnen nach Süden. Die
Sonne ließ die Schneedecke auf der Lagune funkeln, ein paar
Möwen kreisten über dem Schnee und ließen sich
kraftlos auf der Kaimauer nieder, wo sie sofort ihr Gefieder
aufplusterten. Was fraßen die jetzt eigentlich, wo die Fische
die Flucht ins eisfreie Meer angetreten hatten? Auch eine Frage,
die schwer zu beantworten war. Tron fand, dass die Möwen
abgemagert aussahen. Er hatte plötzlich einen irrationalen
Appetit auf Torte, auf Halbgefrorenes mit
Baiserstückchen.
«Ich weiß
nicht, was ich davon zu halten habe», sagte er zu Bossi.
«Aber offenbar steckt hinter dem Einbruch im Palazzo Tron
mehr, als wir vermutet hatten.»
«Was hatten wir
vermutet?» Eine Frage, die Tron verriet, dass Bossi mit
seinen Gedanken momentan woanders war.
«Dass es sich um
ein Zusammentreffen von absurden Zufällen gehandelt haben
könnte», sagte Tron.
«Die Contessa
war nicht dieser
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