Die letzte Lagune
Menschen.
«Das ist auch
besser für dich, Herzchen.»
Signorina Lupi nahm
ihren Weg wieder auf. Sie war zufrieden mit dem Eindruck, den sie
hinterlassen hatte. Und sie hatte sich für das, was sie jetzt
zu tun beabsichtigte, bereits ein wenig aufgewärmt. Der Frost
hatte ihre Nase gerötet, ihre Augen zum Tränen gebracht.
Rheumatisch bedingt, zog sie das linke Bein ein wenig nach, und mit
ihrem fehlenden Schneidezahn war sie keine
Schönheit.
So hatte sie nicht
immer ausgesehen - ganz im Gegenteil. Vor mehr als dreißig
Jahren hatte Signorina Lupi mit ihrem klassischen Profil und ihren
makellosen Zähnen als ausgesprochen attraktiv gegolten. Sie
hatte damals zu den ersten Frauen in Venedig gehört, die sich
photographieren ließen. Diese Bilder - handtellergroße
Silberplatten, die in samtüberzogenen Etuis aufbewahrt wurden
- besaß sie noch. Hin und wieder nahm sie sie zur Hand und
betrachtete sie. Das tat ihrer Stimmung selten gut, und oft musste
sie anschließend große Mengen Kirschlikör
trinken.
Signorina Lupi war
Anfang der vierziger Jahre nach Venedig gekommen und hatte
zunächst am Rialto gearbeitet - mehr oder weniger auf der
Straße. Fünf Jahre später residierte sie am
Canalazzo und empfing für astronomische Summen Erzherzoge und
Vizekönige. Bis dann der Aufstand im Jahre 1848 ihr Leben
durcheinanderwirbelte. Zwar hatten die Österreicher die
Revolution ein Jahr später niedergeschlagen, doch
anschließend gingen die Geschäfte so schlecht, dass es
ihr klüger erschien, sich ins Privatleben zurückzuziehen.
Jetzt besaß Signorina Lupi ein Mietshaus an den Fondamenta
Nuove. Dort wohnte sie, kassierte die Mieten und hielt ihre Mieter
in der Furcht des Herrn. Dass jemand die Miete nicht pünktlich
gezahlt hatte, war noch nie vorgekommen. Niemand legte sich
freiwillig mit Signorina Lupi an.
Jedenfalls bis auf
Signor Petrelli - ein Trinker -, der jetzt im zweiten Monat mit der
Miete im Rückstand war. Zwar hatte ihr Petrelli in der letzten
Woche eine wirre Geschichte aufgetischt - etwas von einem
Geschäft, das ihm eine Menge Geld einbringen würde, aber
sie glaubte ihm nicht. Wenn man damit anfing, den Ausreden von
säumigen Mietern zu glauben, konnte man gleich Bankrott
anmelden. Dass sie nicht zum Vergnügen unterwegs war, wie sie
dem blonden Mädchen gesagt hatte, stimmte, und es stimmte
zugleich nicht. Die Unterredung mit Petrelli würde durchaus
ein Vergnügen sein. Sie beabsichtigte, heute die ausstehende
Miete zu kassieren. Wenn dieser Petrelli das Geld nicht parat
hatte, würde sie Kleinholz aus ihm machen. Und das würde
in der Tat ein Vergnügen sein.
Es war kurz vor elf,
als Signorina Lupi ihr Haus an den Fondamenta Nuove betrat. Erst
klopfte sie bei Petrelli, dann betätigte sie den Klingelzug.
Als sich nichts rührte, zog sie ihren Nachschlüssel aus
der Tasche und öffnete die Wohnungstür. Sie fühlte
sich zappelig wie ein Vollblut, das in der Startbox tänzelt.
Petrelli schien zu Hause zu sein, denn sein Mantel hing an einem
Garderobenhaken an der rechten Flurwand. Die Schlafzimmertür
stand auf, und dünnes Winterlicht fiel auf den schmutzigen
Fußboden. Die gegenüberliegende Küchentür war
geschlossen, woraus Signora Lupi den Schluss zog, dass Petrelli in
der Küche gebechert hatte und jetzt vermutlich schlafend auf
dem Sofa lag.
Als sie den Flur
durchqueren wollte, stutzte sie. Unter dem Mantel, auf dem
Fußboden, lehnte ein Bild in vergoldetem Rahmen an der Wand.
Leute wie Petrelli besaßen normalerweise keine Bilder. Sie
bückte sich und hob es auf. Signorina Lupi verstand nichts von
Kunst, aber wie alle Venezianerinnen war sie instinktiv in der
Lage, Gutes und Schlechtes auf diesem Gebiet zu unterscheiden. Sie
drehte das Bild ins Licht und befand, dass es sich hier um etwas
Gutes handelte. Vielleicht um etwas sehr Gutes. Sie sah den Kopf eines
Engels, der virtuos mit rötlichem Stift auf hellblaues Papier
gezeichnet war. Signorina Lupi grunzte befriedigt. Der Verkauf der
Zeichnung würde einen Teil der Mietschulden decken.
Sie stellte das Bild
wieder ab - diesmal auf die andere Seite des Flurs, zum Zeichen,
dass es konfisziert war. Dann straffte sie ihren Oberkörper,
holte tief Luft und trat vor Petrellis Küchentür. Unter
den gegebenen Umständen verzichtete sie darauf, höflich
zu klopfen. Stattdessen gab sie der Tür einen kräftigen
Tritt, sodass sie aufflog und die Klinke gegen die Wand
knallte.
Eigentlich hatte sie
erwartet, dass Petrelli auf dem Sofa liegen
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