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Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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der Mitte des Canalazzo -
das mussten selbst die erbittertsten Feinde des Kaisers zugeben -
hatte die österreichische Militärverwaltung ganze Arbeit
geleistet. Wieder hatten Kroatische Jäger den breiten
Fußweg nicht nur vom nächtlich gefallenen Schnee
befreit, sondern auch gestreut, so als würde es sich um die
Wiener Ringstraße handeln. Tron hatte die Soldaten heute
Morgen vom Fenster des Palazzo Balbi-Valier aus beobachtet: kleine
Trupps, bewaffnet mit blechernen Eimern, aus denen sie Sand auf den
Weg streuten - alles junge Burschen, die den Wehrdienst in einer
Stadt ableisteten, die ihre Küste jahrhundertelang beherrscht
hatte, bis sie selber in den Herrschaftsbereich einer fremden Macht
geraten war.
    «Vermutlich», stimmte
Tron zu, «sind Sie nicht der Einzige, der Marchmain für
ein Ekel hält.»
    «Aber ich
bezweifle», fuhr Bossi fort, «dass er jemanden
beauftragt hat, einen Eisbecher aus dem Palazzo Tron zu stehlen, um
dann den Dieb in dessen Wohnung eigenhändig zu ermorden. Und
seine Theorie, dass sein Neffe den Einbruch bestellt und den Mord
an Petrelli begangen hat, ist grotesk.» Bossi schwieg einen
Moment. Dann sagte er: «Ist Ihnen aufgefallen, wie sich
Marchmains Miene verändert hat, als die Rede auf seinen Neffen
kam?»
    Tron nickte.
«Marchmain hasst ihn. Das Verhältnis zu seiner Nichte
scheint ja ebenfalls gestört zu sein.»
    Da klar war, dass sie
beide an die Szene im Salon dachten, setzte Tron hinzu:
«Vielleicht war der Mann auf dem Sofa Marchmains
Sekretär Lime.»
    «Hat Flyte Sie
nie gefragt, ob es ein Familienarchiv gibt,
Commissario?»
    Tron schüttelte
den Kopf. «Nein. Vermutlich weil er schlechte Erfahrungen mit
direkten Anfragen gemacht hat.»
    «Sie meinen, es
stimmt, dass man in der Hofbibliothek und auf San Lazzaro noch
Teile dieses Tagebuches gefunden hat und es aus irgendwelchen
Gründen nicht zugibt?»
    «Es sieht ganz
so aus.»
    Bossi war stehen
geblieben und hatte die Augen träumerisch auf einen
Maronenstand unter der Ponte dell Accademia gerichtet. «Was
könnte das für ein Geheimnis sein, von dem Marchmain
geredet hat? Das Geheimnis des vierten
Kreuzzugs. Klingt fast wie
...»
    Tron packte den
Ispettore ungeduldig am Arm und zog ihn weiter. «Wie der
Titel eines der Groschenromane, die Sie immer
lesen.»
    «Wann erwarten
Sie diesen Flyte heute?»
    «Er wollte uns
gegen fünf besuchen.»
    «Im Palazzo
Tron?»
    Tron schüttelte
den Kopf. «Er kommt in den Palazzo
Balbi-Valier.»
    Bossi hob erstaunt die
Augenbrauen. Der passende Ort für ein solches Gespräch
wäre jedenfalls der Palazzo Tron gewesen. Aber das Treffen mit
Flyte fand auch deshalb im Palazzo Balbi statt, um die Neugier der
Principessa auf den Engländer zu befriedigen. Doch das war
kein Gesprächsthema zwischen Tron und Bossi. Also sagte Tron
nur: «Die Contessa hat momentan ziemlich viel um die
Ohren.»
    «Die
Präsentation der neuen Gläser am
Donnerstag?»
    Tron nickte nur knapp.
«Auch das.»
    «Worüber
werden Sie mit Flyte sprechen?»
    «Wenn die
Abneigung seines Onkels auf Gegenseitigkeit beruht, wird er mir
sicher einiges über Marchmain erzählen
können.»
    Wieder dachte er an
Holly Parker, die Szene im Salon und die Art und Weise, wie
Marchmain seine Nichte behandelt hatte. Aber alles das hatte kaum
etwas mit dem Einbruch und dem Mord zu tun.
    Bossi seufzte.
«Haben Sie wenigstens die Spur einer Theorie, Commissario? Warum
bricht jemand in den Palazzo Tron ein, stiehlt einen wertlosen
Pokal und wird anschließend in seiner Wohnung ermordet? Und
warum ist dieser Pokal dann verschwunden und nicht die
Raffael-Zeichnung, die Petrelli ebenfalls mitgenommen
hatte?»
    Tron musste
lächeln. Der kriminalistische Kleinkram fiel ins Bossis
Ressort, für das große Ganze war immer noch er
zuständig. Er dachte einen Moment nach. Nein, er hatte nicht
die Spur einer Theorie. Es ergab einfach keinen Sinn.
    «Ich glaube
nicht», begann Tron und unterbrach sich erschrocken, als die
Luft vor seiner Nase plötzlich weiß und undurchsichtig
wurde. Tron und Bossi rissen unwillkürlich die Hände
hoch. Eine kleine Pulverschneelawine hatte sich vom Dach des Hauses
gelöst und rieselte wie Puderzucker auf sie herab.
    «Ich glaube
nicht», sagte Tron jetzt zum zweiten Mal, nachdem er sich den
Schnee von seinem Mantel geklopft hatte, «dass es klug
wäre, in diesem Stadium der Ermittlungen bereits eine Theorie
aufzustellen. Erfahrungsgemäß ist nichts so, wie es
zunächst scheint, Bossi.»
    Das war genau

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