Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Lagune

Die letzte Lagune

Titel: Die letzte Lagune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
Vom Netzwerk:
das
triviale Blabla, das er an anderen Leuten verabscheute, und er war
froh darüber, dass Bossi auf einen Kommentar
verzichtete.
    Sie betraten die
Piazza pünktlich mit dem Zwei-Uhr-Läuten vom Campanile.
Hier, im Windschatten der Gebäude, die den Markusplatz
abschirmten wie zwei schützende Hände, schien alles auf
beruhigende Art und Weise wie immer zu sein. Kaiserliche Offiziere,
die Kragen ihrer Mäntel hochgeschlagen, standen vor dem Quadri
und rauchten. Maronen- und Frittolinihändler hatte ihre
Stände aufgeschlagen und schienen gute Geschäfte zu
machen. Das einzig Ungewöhnliche war ein Menschenauflauf an
der Ostseite des Campanile. Zwei Dutzend Personen standen am
Fuß des Glockenturms, einige zeigten auf das verschneite Dach
und gestikulierten.
    Als Tron und Bossi
sich durch die Menge gedrängt hatten, sahen sie, dass sich ein
Kreis von Schaulustigen gebildet hatte, die auf einen Körper
hinabstarrten, über den die Tischdecke eines Cafés
gebreitet war. Ein Beamter von der Wache an der Piazza, Sergente
Caruso, hatte sich zwischen den Gaffern und dem zugedeckten
Körper aufgebaut. Neben der Decke war ein Schneehaufen
zusammengefegt worden, Tron sah ein paar große Eisbrocken in
dem Haufen blitzen. Vor der Decke kniete ein Priester, der dem
Sterbenden offenbar gerade noch rechtzeitig die Sakramente
gespendet hatte. Neben ihm stand ein bärtiger Mann mit einem
Filzhut, auf dem ein weißes Kreuz auf rotem Grund prangte. Er
hielt ein kleines Mädchen an der Hand, das hemmungslos
schluchzte.
    «Was ist
passiert?», fragte Tron.
    «Ein
Eisbrett», sagte Sergente Caruso mit belegter Stimme.
«Es hat sich vom Dach des Campanile gelöst und ist
herabgerutscht. Sie war auf der Stelle tot.»
    Dass sich Eisbretter
und regelrechte kleine Lawinen, durchsetzt mit Dachziegeln und
Eisbrocken, von Hausdächern lösten, war in den letzten
Tagen mehrmals vorgekommen. In Cannaregio hatte es einen Priester
erwischt, in San Marco einen französischen Touristen - der lag
noch in kritischem Zustand im Ognissanti. Die Gazetta di Venezia hatte über beide
Fälle berichtet und den undurchführbaren Vorschlag
gemacht, die Hausdächer vom Schnee zu räumen. Vermutlich
handelte es sich, dachte Tron, bei dem Mann und dem kleinen
Mädchen um den Gatten und die Tochter der Toten.
    «Ist Dr.
Lionardo benachrichtigt worden?», wollte Bossi wissen.
«Jemand muss einen Totenschein ausstellen.»
    Ein unmotiviertes
Grinsen huschte über Carusos Gesicht. «Ich hielt es in
diesem Fall nicht für notwendig, Commissario. Für den
Abtransport hat Dr. Stürzli bereits gesorgt.» Caruso
wies mit dem Daumen über seine linke Schulter. Als Tron den
Kopf drehte, sah er, was der Sergente gemeint hatte.
    Der Abtransport, den
der trauernde Gatte bereits organisiert hatte, bestand aus zwei
Männern in dicken Wintermänteln und mit Mützen, die
sie als Angestellte des nahegelegenen Danieli-Hotels auswiesen. Sie
hatten sich einen Weg durch die immer noch anwachsende
Menschenmenge gebahnt und trugen eine Bahre, auf der eine Art
Pferdedecke lag. Neben der Toten setzten sie die Bahre nieder, um
auf weitere Anweisungen zu warten.
    Caruso sah Tron an.
«Wollen Sie noch einen Blick ...»
    Tron seufzte. Nicht
dass er wollte, aber er musste wohl. Zumal ihm an dem ganzen
Vorgang irgendetwas aufklärungsbedürftig vorkam.
«Natürlich», sagte er.
    Caruso kniete nieder,
schlug die Decke zurück, aber es dauerte ein paar lange
Sekunden, bis Trons Verstand begriffen hatte, was seine Augen
sahen. Zu seinen Füßen lag ein sehr großer,
dicklicher Hund mit braun-weiß geflecktem Fell. Das Tier lag
auf der Seite, seine Augen waren geschlossen. Eine rosafarbene
Zunge hing aus dem Maul heraus, so als hätte das Tier gerade
etwas Leckeres geschleckt. Äußere Verletzungen waren
nicht zu erkennen. Lediglich der Rücken war in einem
unnatürlichen Winkel überstreckt. Dort, wo ihm das
Eisbrett sein Rückgrat zerschmettert hatte, machte der
Rücken einen Knick.
    Eigentlich, dachte
Tron, hätte er Erleichterung darüber empfinden
müssen, dass das Eisbrett nur einen Hund erwischt hatte. Und
er empfand auch Erleichterung - schon wenn er an den ganzen
Papierkram dachte, der ihm so erspart blieb. Aber in die
Erleichterung mischte sich eine kleine Portion schlechter Laune.
Tron hatte das völlig unberechtigte Gefühl, dass Caruso
(der nicht über den geringsten Humor verfügte) sich einen
abgeschmackten Scherz auf seine Kosten erlaubt hatte.
    «Wir sehen uns
morgen um zehn», sagte er

Weitere Kostenlose Bücher