Die letzte Lagune
er
immer trug. Jetzt waren es noch knappe zwanzig Schritte bis zur
Haustür, und der Mann in der weißen Jacke fing an,
rückwärtszuzählen. Als er bei null angekommen war,
trat er zu. Das Eisbrett löste sich, gewann an Fahrt und
rutschte dann mit einem leisen Kratzgeräusch über den
Rand des Daches. Außer einem schwachen Sausen würde Dr.
Flyte nichts hören. Und wenn, dann würde es zu spät
sein, der Lawine auszuweichen. Die Sakramente würde Dr. Flyte
nicht mehr empfangen können, aber der Engländer hatte der
heiligen Kirche stets unverhohlen die kalte Schulter gezeigt, und
es war zweifelhaft, ob er überhaupt Wert auf die
Sterbesakramente legte.
Knappe zwei Sekunden
später erfolgte der Aufschlag, ein dumpfes Rumpeln, sekundiert
von dem Kreischen einer Frau. Dann waren Rufe vom Grund der Calle
del Pozzo zu hören, jemand schrie, aber er war zu weit
entfernt, um etwas zu verstehen. Er richtete sich auf und kroch
vorsichtig über eine Laufplanke auf das Dach des Nebenhauses.
Von dort aus gelangte er über eine weitere Planke auf den
Altan des nächsten Gebäudes, und von dort gab es einen
Zugang zum Treppenhaus. Die Treppen herabsteigend merkte er, dass
sein Gesicht glühte und sein Atem hektisch und stoßweise
ging. Trotzdem fühlte er sich prächtig.
Als er auf die Calle
del Pozzo trat, sah er, wie sich drei Hauseingänge weiter ein
paar Leute über einen Körper beugten. Also hatte die
Lawine Flyte erwischt. Ob sie ihn getötet hatte, war nicht zu
erkennen. Aber Tod und Leben lagen ohnehin in der Hand des
Herrn.
14
Dr. Sebastian Flyte,
jung und ledig, stand vor dem Spiegel seines Schlafzimmers und
betrachtete sein Gesicht. Er fand, dass die kleine Schramme, die er
sich unter ausgesprochen bizarren Umständen zugezogen hatte,
seiner Erscheinung einen zusätzlichen Reiz verlieh. Der
Streifen aus verkrustetem Blut zog sich drei Fingerbreit über
die linke Seite seiner Stirn und war vermutlich entstanden, als
sein Kopf - die genaue Erinnerung fehlte ihm - beim Sturz die
Hauswand gestreift hatte. Die Schramme gab seiner Erscheinung einen
Einschlag ins Kriegerische. Das passte insofern, als er sich
momentan tatsächlich im Krieg befand - mit Rom, mit Wien, mit
Marchmain und dem Sekretär Marchmains, diesem
hinterhältigen Lime.
Meine Güte,
dachte er, wäre das albern gewesen, ausgerechnet in Venedig
von einer Lawine erschlagen zu werden. Und die hatte es in sich
gehabt, wie er feststellte, nachdem ihm besorgte Passanten wieder
auf die Beine geholfen hatten. Es war keine harmlose Schneelawine
herabgerieselt, sondern ein solides Eisbrett von der
Größe eines Doppelbetts hatte sich vom Dach gelöst
und war direkt hinter ihm auf die Steinplatten der Calle del Pozzo
gestürzt. Der Aufprall hatte eine kleine Druckwelle erzeugt,
und die hatte ihn kurz zu Boden geschickt. Erst als er - leicht
benommen -wieder auf den Beinen stand, war ihm klargeworden, dass
er um Haaresbreite dem Tod entronnen war. Wobei, dachte er in einem
Anfall von Panik, die ihn jetzt regelmäßig überkam
- wobei ein schneller, schmerzloser Tod vielleicht nicht das
Schlechteste gewesen wäre. Die ganze Geschichte fing an, ihm
über den Kopf zu wachsen, aber jetzt war es zu spät
auszusteigen. Er konnte nur weitermachen und hoffen, dass sich
alles irgendwann und irgendwie fügte.
Äußerst
wichtig würde das Gespräch sein, das er in weniger als
einer halben Stunde im Palazzo Balbi-Valier mit diesem Tron
führen würde. Eigentlich hatte er eine Einladung in den
Palazzo Tron erwartet, dann aber herausgefunden, dass es sich bei
dem Palazzo Balbi-Valier um die Residenz einer gewissen Principessa
di Montalcino handelte, mit der der Commissario eine Art
Dauerverhältnis unterhielt. Er hatte ebenfalls herausgefunden,
dass dieser Tron ein Habitué des Café Florian war und
dort im maurischen Salon jeden Vormittag ein zweites
Frühstück zu sich nahm. Vor drei Tagen hatte er sich
neugierig im Florian eingefunden und in der Nähe eines
reservierten Tisches Platz genommen. Gegen elf Uhr hatte dann ein
Herr das Café betreten, der sofort respektvoll
begrüßt und mit Conte angeredet wurde.
Commissario Tron
- Conte
Tron - war
ein Mann Mitte fünfzig, bartlos und mit einem Kneifer auf der
Nase, eine eher unauffällige Erscheinung, jedenfalls wenn man
davon absah, dass der Pelzkragen seines Mantels auffällig
abgeschabt und sein schwarzer Zylinderhut auffällig verbeult
war. Tron hatte sich zwei Tische weiter niedergelassen und eine
schmale Akte aus der
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