Die letzte Lagune
von Enrico Dandolo in der Marciana. Dass diese
Lagerlisten sich nicht angefunden hatten, aber, versteckt hinter
einer Reihe von Folianten, ein Packen verstaubter Pergamentseiten,
die sich bei näherer Betrachtung als die Aufzeichnungen eines
gewissen Zanetto Tron erwiesen. Da es Hinweise darauf gab, es
könnten sich weitere Teile des Tagebuches in der
Klosterbibliothek von San Lazzaro oder in der Wiener Hofbibliothek
befinden, hatte Flyte an beiden Orten (er kannte die Bibliotheken
von früheren Forschungsaufenthalten) nachgefragt, war aber
abschlägig beschieden worden. Im Übrigen gab es - und das
war Tron neu - ein Arrangement, direkt zwischen dem Ballhausplatz
und dem Foreign Office getroffen, das Flyte ein Exklusivrecht an
der wissenschaftlichen Verwertung der Tagebücher
einräumte. Trotzdem schien man in Rom und in Wien insgeheim
ein lebhaftes Interesse an den Tagebüchern Zanetto Trons zu
haben. So als gäbe es ein halbes Jahrtausend nach dem Kreuzzug
noch etwas Wichtiges aufzudecken.
«Offenbar geht
es um die Rolle Enrico Dandolos», sagte die Principessa,
nachdem Flyte seinen Vortrag beendet hatte.
Flyte nickte.
«Ist Venedig in diese barbarische Operation mehr oder weniger
hineingerutscht? Oder war die Plünderung Konstantinopels von
Anfang an geplant? Der Papst hat Dandolo damals den Vorsatz
unterstellt, und der Rest der Christenheit hat sich diesem Urteil
angeschlossen.» Flytes skeptisch herabgezogene Mundwinkel
deuteten an, dass er dieses Urteil nicht teilte.
Tron sagte: «Was
glauben Sie?»
«Ich glaube
zwar, dass die Zerstörung der Stadt von Anfang an geplant
war», sagte Flyte. «Aber vielleicht war das nur der
Nebeneffekt einer Operation, in die außer dem Dogen nur eine
Handvoll Leute eingeweiht gewesen sind.»
«Das hört
sich rätselhaft an», sagte die Principessa.
«Diese
Geschichte ist rätselhaft,
Principessa.»
«So wie die
Episode mit dem Glas», sagte Tron. «Das Glas wird dir
Unglück bringen, Dandolo.»
«Sie meinen die
Worte von Pater Francesco kurz vor seinem Tod?»
Tron nickte.
«Wissen Sie inzwischen, was er damit sagen
wollte?»
Flyte hob bedauernd
die Schultern. «Der Satz ist mir immer noch ein
Rätsel.»
«Es hat vor ein
paar Tagen hier auch ein Rätsel um ein Glas gegeben»,
sagte Tron. Er hielt kurz inne. Auf einmal kam es ihm völlig
absurd vor, den Prototyp eines Eisbechers mit einem
mysteriösen Glas in Verbindung zu bringen, von dem vor mehr
als sechshundert Jahren an Bord eines Kreuzfahrerschiffs die Rede
gewesen war. Schließlich führte er aus: «In den
Palazzo Tron ist eingebrochen worden. Das Einzige, was außer
einer Zeichnung gestohlen worden ist, war ein Glas. Der Prototyp
eines Eisbechers. Meine Mutter, die Contessa Tron, vermutete einen
Fall von Industriespionage und verdächtigte Ihren Onkel. Aber
das halte ich für Unsinn. Der Einbrecher wurde zwei Tage
später ermordet aufgefunden. In seiner Wohnung. Das Glas war
verschwunden.»
Bei dem Wort ermordet zuckte Flyte kurz
zusammen. «Gibt es Verdächtige?», erkundigte er
sich.
Tron schüttelte
den Kopf. «Mr. Marchmain hatte angedeutet, dass Sie auf der Suche nach
weiteren Tagebuchfragmenten ...» Er brach den Satz ab. Die
Anschuldigungen, die Marchmain gegen seinen Neffen erhoben hatte,
waren ihm schon an Ort und Stelle abstrus vorgekommen. Hier im
Gespräch mit Flyte schienen sie völlig grotesk zu
sein.
«Dass ich auf
der Suche nach weiteren Tagebuchfragmenten einen Dieb engagiert und
ihn dann ermordet habe?»
Tron nickte.
«Und dass Sie diesen Herrn angewiesen haben, den Prototyp des
Eisbechers zu stehlen, um die Polizei auf eine falsche Spur zu
locken.»
«Die dann zu
meinem Onkel führen sollte?»
«So hat er es
wohl gemeint», sagte Tron.
Flyte stieß ein
bitteres Lachen aus. «Er hasst mich.»
«Gibt es
dafür einen Grund?»
Flyte schwieg einen
Moment. «Es geht um den Letzten Willen meines Vaters»,
sagte er dann. «Es gibt zwei Testamente. Ein
ursprüngliches Testament, das mich begünstigt, und ein
späteres Testament, das meinen Onkel begünstigt. Wir
glauben, dass das spätere Testament gefälscht
wurde.»
«Wer sind wir?»
«Meine
Anwälte und ich.»
«Und
nun?»
«Führen wir
einen Prozess in London.» Flyte seufzte.
«Außerdem missbilligt er meine Arbeit. Er
befürchtet, dass das, was er die heilige Kirche nennt, durch meine
Untersuchungen in ein schiefes Licht gerät.»
«Mr. Marchmain
ist tatsächlich Katholik?»
«Er ist dem
Herrn begegnet», sagte Flyte.
«Seitdem
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