Die Letzte Liebe Meiner Mutter
folgenden Verletzung ihrer ehelichen Gehorsamspflicht eine Tracht Prügel riskierte, antwortete sie: »Wenn du den ganzen Abend in der Kneipe herumhängst, hab ich ja nichts andres zu tun, als mir Scheißsendungen im Fernsehen anzusehen!«
Worauf er wieder, ein Mann des letzten Worts: »Ich sitz in der Kneipe, weil ich vor deinen Scheißsendungen Reißaus nehmen muss, verdreh doch nicht dauernd die Tatsachen.« Und dann verlangte er sein Essen und befahl ihr, es aufzuwärmen, aber dalli, sonst würde er ihre Glotze noch kurz und klein schlagen.
Ein Anhänger der androzentrischen Weltsicht, eindeutig.
Die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren ein Segen für Ehefrauen von nach aufzuwärmendem Essen brüllenden Trunkenbolden, jetzt, da der Markt von Mikrowellengeräten überspült war, einer Erfindung aus den dreißiger Jahren, doch erst vor kurzem dem Haushaltskomfort nutzbar gemacht. Ein weiterer Segen war die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz von Ehescheidungen. Martine musste ihre Hoffnungen übrigens auf Letzteres setzen, eine Mikrowelle war für eine Familie, in der das Gesamtbudget für Romy Pils draufging, sowieso unerschwinglich.
Doch jetzt war sie glücklich, viel glücklicher eigentlich als jemals vorm Fernseher bei Home Is Where My Children Cry , und sie nahm sich die Zeit, dies auch vollauf zu genießen. Hier, in diesem Nest im Schwarzwald, zehn Fliegenschiss groß, wo sie ihren Urlaub verbrachte, den ersten Urlaub mit ihrem neuen Mann, Wannes Impens, und ihrem Kind, dem Einzigen, was ihr, zusammen mit ein paar Töpfen, einem Staubsauger, einem Sofa und obengenanntem Fernseher, von ihrer ersten Ehe geblieben war.
Es war still in diesem Dorf. Und obwohl sie wenig Grund zur Nostalgie hatte, erinnerte sie diese Stille an die Straße ihrer Kindheit, eine Sackgasse, ein Blinddarm im übrigen Straßennetz, in die sich niemals ein Wagen verirrte. Und als das schließlich doch geschah, irgendwann musste es ja einmal passieren, bekam der Ford Consul eine Panne, was die ganze nähere Umgebung mit einer hartnäckigen Form von Fortschrittspessimismus infizierte. Das Misstrauen dem Auto gegenüber sollte erst enden, als in ein und demselben Sommer zwei Fälle von Herzinfarkt die Nachbarschaft erregten. Die eine Betroffene, Germaine Naessens, wurde mit ihren neunzig Kilo auf einen Fahrradgepäckträger gehievt und ins Krankenhaus gefahren, das sie nie lebend erreichte. Der andere, Ludo Boesmans, wurde vom Notarztwagen geholt und sollte danach noch jahrelang täglich seine fünfzehn Torpedo Natural paffen, um schließlich zweiunddreißig Lenze, vier Monate und einundzwanzig Tage nach der chirurgischen Reparatur seiner Herzkranzarterie fluchend an einer wirklich unheilbaren Krankheit zu sterben: dem Alter.
In diesen Erinnerungen schwelgend, fragte Martine sich, wie gut ein Ereignis wohl abgelagert sein musste, bevor es Fiktion werden konnte. Bevor die oft wiederholten Übertreibungen die Stelle der Wahrheit einnahmen oder vielmehr: Wahrheit wurden . Und trotzdem, ganz eindeutig: Die Stille in diesem deutschen Dorf war die Stille im Reich ihrer Kindheit.
Sie betrachtete die Felder um sich herum, die sanften Hügel, die Bäume, die fröhlich zwitschernden Vögel, den Himmel, wie gemalt mit Buntstift Nr. 161 aus dem Sortiment von Caran d’Ache. Sie spürte die Sonne auf ihren Armen angenehm brennen, noch ohne jeden Gedanken an Hautkrebs, nippte an ihrer Tasse Kaffee und fühlte sich glücklich, vielleicht gar auf dem Höhepunkt ihres Lebens.
Da fragte ihr Sohn Jimmy gelangweilt, wie lange sie noch auf dieser Terrasse herumsitzen müssten, und damit war ihr Höhepunkt schon wieder vorbei.
Kapitel 2
W ie wär’s, wenn wir diesen Sommer mal zusammen in Urlaub fahren würden, was meinst du?«, hatte Wannes gefragt und dabei sofort hinzugefügt: »Zu dritt, meine ich«, womit er signalisierte, auch Jimmy, immerhin das Kind eines anderen, während dieser kostbaren Tage erdulden zu wollen.
Natürlich hätte Wannes lieber eine Beziehung mit einer Frau ohne Vergangenheit gehabt oder wenigstens einer ohne Kinder. Doch offenbar mussten Frauen erst eine Scheißehe hinter sich bringen, um sich in ihn verlieben zu können. Und umgekehrt war es genauso: Auch seine amourösen Gefühle wurden leichter von Müttern als von Mädchen entzündet. Er konnte nicht ewig dagegen ankämpfen. Wollte er nicht als trauriger Junggeselle oder als Mönch enden, musste er sich seinem Schicksal ergeben. Und so stürzte er sich
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