Die Letzte Liebe Meiner Mutter
Farblosigkeit, ihre armseligen Eltern, ihren Abschluss als Näherin und Zuschneiderin, ihre erbärmlichen Jobs, ihren Säufer von Mann, ihr ungewolltes Kind, ihren Kopf voller Beulen und Schrammen, ihre zerdepperten Möbel, ihren aufquellenden Körper, die trostlosen Mietswohnungen, die sie mit Müh und Not bezahlen konnte, die Mäuse, die sich dort tummelten … Zu guter Letzt, auch wenn sie den Tag herbeigesehnt hatte, schämte sie sich sogar für ihre Scheidung. Für die anderen, deren Gedanken zu erraten ihr ein Kinderspiel schien, war sie nicht einfach vor einem Tyrannen geflohen, nein, sie war mit einem anderen Mann durchgebrannt. Soll heißen: Sie war eine Hure. Davon war Martine nicht abzubringen, das war das Wort, mit dem man über sie tratschte, bestimmt: »Hure.«
Man kann sich so lange für alles Mögliche schämen, bis es zur Gewohnheit wird, auch wenn es eines von den Göttern ertrotzten Tages eigentlich nichts mehr gibt, wofür man sich schämen müsste.
Das Wort »Burka« sagte Martine vorläufig noch nichts, Kreuzworträtsel fragten nicht danach, und noch gut fünfzehn Jahre sollte es dauern, bis Fernsehsendungen ihr und anderer Leute Leben damit bereicherten, in Sätzen wie: »Frauenrechtsorganisationen betrachten dieses Kleidungsstück als x-tes Zeichen der Unterjochung der Frau durch den Mann.« In bestimmten Momenten jedoch hätte Martine sich liebend gern unter einem solchen Gewand verkrochen, dem Ganzkörperschutz gegen die tägliche Scham.
Und ausgerechnet sie sollte sich jetzt zu einer Gruppenreise anmelden?
Wannes verfügte über eine ganz andere Art Überzeugungskunst, als Martine bisher von Männern kannte. So brauchte er – um nur ein Beispiel zu nennen – etwa beim Argumentieren überhaupt nichts kaputtzuschlagen. Die Stimme zu erheben fand er unter seiner Würde. Das führte allerdings dazu, dass er etwas länger brauchte, sein Ziel zu erreichen. Mit der Geduld eines Fernschachspielers führte er jeden Tag einen neuen Punkt an: Martine werde nicht mehr geschlagen, wohne nicht mehr in einem Haus mit Pappmascheewänden, aus denen das Ungeziefer hervorkroch, sondern in einer anständigen Wohnung mit Teppichboden und Badezimmer, ihre Arbeit sei vielleicht nicht gerade super bezahlt, aber immerhin habe sie Arbeit, und außerdem sei sie verdammt gut darin, et cetera, et cetera in aeternam vallera. Kein Grund also – denn darum ging es Wannes in seinem täglichen Überredungssermon –, sich vor anderen für irgendetwas zu schämen.
Was er allerdings übersehen und nicht einkalkuliert hatte, war, dass Martine besonders der piefige Ruf solcher Busreisen störte. So ein Urlaub erinnerte sie vor allem an Rentnertouren wie etwa die nach Banneux, dem wallonischen Wallfahrtsort. Unterwegs spielte man Bingo, um die Zeit totzuschlagen, gab dem Busfahrer Kassetten mit Akkordeonmusik, zu der alle mitsingen mussten, und nach Erledigung der religiösen Formalitäten wurde der Souvenirshop gestürmt, wurden Preise verglichen und Jagd auf die Schnäppchen gemacht. Danach wurde an einem Tanzlokal mit Hammondorgel, nicht allzu glatter Tanzfläche und Diskokugel gehalten, wo es Apfelkuchen zum Sonderpreis gab und man im Festsaal einer Demonstration neuer Handwaschmittel (mit verbesserter Wirkstoffformel) sowie elektrischer Dosenöffner beiwohnen konnte, Letzteres natürlich ohne jede Kaufverpflichtung, außer einer moralischen.
Doch auch ein Fernschachspieler verliert irgendwann die Geduld.
»Ich weiß nicht, was ich bei dir falsch mache, aber so langsam hab ich den Eindruck, dass du überhaupt nicht mit mir in Urlaub fahren willst . Bin ich dir nicht gut genug? Ein zu großer Simpel? Passt dir meine Nase nicht? Erklär’s mir, denn ich versteh’s nicht. Ich versuch, dir einen Urlaub zu bieten, verdammt noch mal, dir und dem Bengel, und an jedem Vorschlag hast du irgendwas rumzumäkeln. Dann geh doch zurück, wo du herkommst, wenn’s da so großartig war! Geh zurück zu diesem Brüllaffen und verreis zusammen mit ihm, mit dem hat das der gnädigen Frau ja offenbar mehr Spaß gemacht! Na los, mach dir um mich keine Sorgen, ich komm schon zurecht. Verkriech dich mit ihm in ’ner Hütte in den Ardennen oder lass dir in Amsterdam Tulpen schenken, wenn du das alles romantischer findest, fahr mit ihm nach Stenay ins Biermuseum, mir ist es egal, hörst du? Piepschnurzegal!«
Und zum ersten Mal im Leben schlug er etwas kaputt, genauer: einen Teller, Delfter Blau aus der nummerierten Serie Die
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