Die Letzte Liebe Meiner Mutter
Stolperstein in der viel zu schnell sich wandelnden Welt gebeten wurde.
All das müsste genügen, damit seine Mutter, Martine Withofs bzw. Impens, ab und zu auf der Straße oder beim Metzger gefragt wurde: »Der Mann, der da gestern Abend nach den Nachrichten im Fernsehen war, und jetzt schlagen Sie mich nicht, wenn ich mich irre, aber war das nicht …?«
Mit dem Eifer von Sowjetfunktionären mussten Wannes und Martine alles getan haben, ihn aus ihrem Leben zu löschen. So wie zuvor sein Vater aus Martines Leben gelöscht worden war. Fotoalben und Kästchen mit Souvenirs wurden von Jimmys Existenz gesäubert. Ein fast perfekter Mord, ohne Leiche. Doch wie Katzen an einer Hausecke die Existenz von Vorgängern riechen, musste auch Jimmys Halbbruder irgendwann einen mysteriösen Schatten aus der Vergangenheit wahrgenommen haben. Jemand war ihm in Mutters Armen zuvorgekommen, das ließ sich immer schwerer leugnen. Tropfenweise hatte der Junge Informationen bekommen, durch Bekannte oder Großeltern, die sich verplapperten, durch vergessene Spuren, die der Aufmerksamkeit dieses familiären Geschichtsrevisionismus entgangen waren. Je deutlicher das Tabu in der Vergangenheit seiner Mutter sich zeigte, desto mehr fachte es das Interesse an seinem verschollenen Halbruder an.
Ihr ganzes streng voneinander getrenntes Leben gab es eine unsichtbare Verbindung zwischen den beiden. Sie hörten Dinge übereinander, auf Umwegen, Gerede, Tratsch, Frisörsalonlyrik, und wurden ständig aneinander erinnert. In seinen pathetischsten Momenten fühlte sich Jimmy mit dem unbekannten Blutsverwandten verbunden wie mit einem Zwillingsbruder, einem Alter Ego, obwohl, wie er wusste, er sich damit auf ein Terrain begab, in dem Hellseher und Wünschelrutengänger ihr Unwesen trieben. Das Sentimentale an dieser Vorstellung stieß ihn ab. Doch er zweifelte keine Sekunde daran, dass auch sein Bruder so dachte.
Die Geschichte hat ihren Abschluss gefunden. Unten in der Bibliothek sitzt jetzt sein Halbbruder, und Jimmy weiß, dass dessen Aussehen ihn nicht überraschen wird. Als sei er bereits vertraut mit seinem Gesicht, seiner Stimme, all seinen Verhaltensweisen und Ticks.
Retten lässt sich natürlich nichts mehr. Was kaputt ist, bleibt kaputt. Jimmys Mutter ist schon lange gestorben. Er erfuhr davon aus der Zeitung (»diese Todesanzeige dient als einzige Bekanntmachung«), mehr als neun Kilometer über der Erde, im Flugzeug nach Delhi. Und obwohl er das Verhalten von Parvenüs, die meinen, stets etwas Exklusives trinken zu müssen, sobald sie sich über den Wolken befinden, immer albern gefunden hatte, hat er damals die Zeitung zusammengelegt und bei der Stewardess einen Gin bestellt. Den teuersten auf der Karte … Ja, alles kommt also zu spät, jedes Wort des Trostes, jede versöhnliche Geste. Jahre sind verdampft und können nie mehr zurückgebracht werden, keine Beziehung, die sich wiederherstellen ließe, kein Fehler, der in Ordnung gebracht werden könnte. Auch wenn die zwei betagten Herren die ganze Nacht aufblieben, aus Reserven an Willenskraft schöpfend, und reden würden, reden, reden und reden … retten lässt sich, wie gesagt, nichts mehr.
Doch das ist auch nicht nötig. Jimmy sieht sein Dasein gern als etwas zu Formendes: schöner, wenn man es abrunden kann. Und dazu bedarf es nur noch dieser einen Begegnung, wie in der Dichtkunst das Distichon der Epode.
Danach können die Bücher geschlossen werden.
Marthe sieht Jimmy aus dem oberen Stockwerk kommen und kann es nicht lassen, eine Bemerkung über seine soignierte Erscheinung zu machen. »Ja, was seh ich da? Sie schauen ja glatt siebzig Jahre jünger aus! Jetzt hoff ich aber für Sie, Sie denken nicht, dass in der Bibliothek eine Frau auf Sie wartet!«
Er ignoriert ihr fröhliches Geplapper und trägt ihr auf, eine gute Flasche Wein aus dem Keller zu holen. Danach brauche sie sich um nichts mehr zu kümmern, könne sie zu Bett gehen, in Urlaub von ihm aus oder ihre Kündigung einreichen. Der Briefumschlag liege schon bereit, sie brauche ihn nur noch aus der Schreibtischschublade zu nehmen. Doch diese eine Flasche, die wolle er noch.
Es ist Jahre her, seit er zum letzten Mal im Keller war. Irgendwann wurden die Treppen zu anstrengend für ihn, vor allem für seine Streichhölzer von Beinen. Doch er weiß noch genau, welche Flasche wo liegt. Zumindest hofft er das. Denn er hat die dunkle Vermutung, dass Marthe ab und zu auch dort etwas für sich mitgehen lässt. Mit ein
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