Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
O’Hara.
»Wenn man auf dünne tote Mädchen steht«, sagt Lebowitz.
»Das Problem ist«, fährt er fort, »dass es so viele Kerben sind, dass es einem schwerfällt, sich auf eine zu konzentrieren. Wir wollen sie vierteilen und sehen, ob das hilft.« Er zieht den oberen Reißverschluss bis zu Penas Hals herunter und den unteren bis zur Hüfte herauf, so dass nur der Bereich zwischen Schulter und Hüfte freiliegt.
»Jetzt wirkt es nicht mehr ganz so erdrückend.«
Auf Penas Oberkörper vorne zählt Lebowitz zwölf Kerben. »Es gibt kaum Übereinstimmungen zwischen den Wunden«, sagt er. »In der Länge variieren sie zwischen sechzehn und viereinhalb Zentimetern. Teilweise sind es nur Kratzer, teilweise sind sie bis zu drei Zentimeter tief.«
Anschließend bedeckt Lebowitz Penas Oberkörper und entblößt ihre Beine. In diesem Bereich befinden sich weniger Wunden. Die wenigen vorhandenen sind kleiner und nicht so tief. »Die Klinge ist hier bereits abgestumpft«, sagt Lebowitz und deutet auf die unebenen Schnittkanten. »Der Mörder muss sich von oben nach unten vorgearbeitet haben.«
»Es sieht aus, als wäre er müde geworden«, sagt O’Hara. »Es wirkt schlampiger.«
»Vielleicht hat auch sein Elan nachgelassen. Inzwischen war das Opfer höchstwahrscheinlich nicht mehr bei Bewusstsein.«
Als Lebowitz Pena auf die andere Seite rollt, sehen sie auf den ersten Blick, dass die Wunden auf dem Rücken größer und tiefer sind als vorne. Hier wirken die Schnitte am saubersten, was vermuten lässt, dass an dieser Stelle begonnen wurde. »Wenn man eine andere Person foltern will«, sagt Lebowitz, »würde man doch vermutlich vorne anfangen, damit das Opfer sieht, was ihm angetan wird.«
»Lässt sich irgendwie feststellen, welche Kerbe die erste war?«, fragt O’Hara.
»Nicht mit Gewissheit. Aber wenn ich auf eine tippen müsste, dann auf diese.« Lebowitz deutet auf eine rechteckige Wunde in der Größe einer Kreditkarte auf Penas rechter Pobacke. »Die Wunde ist tief und die Ränder wirken besonders sauber. Der Täter hat sich hierfür eindeutig Zeit genommen.«
Lebowitz zieht sich Latexhandschuhe über die langen Finger und schneidet mit einem Skalpel ein sehr dünnes Scheibchen aus der Mitte der Wunde. Er legt es auf ein Glasplättchen und geht damit zu einem verkratzten Mikroskop auf einem Tisch. Auf der Highschool hätte Lebowitz zu den Strebern gehört, denen O’Hara aus dem Weg ging oder, was noch schlimmer war, die sie ärgerte. Aber als er vorsichtig seine Brille mit dem Metallgestell absetzt, sich das dunkle, widerspenstige Haar aus dem Gesicht streicht und sich über die Linse beugt, stellt O’Hara fest, dass sie inzwischen unvoreingenommener ist. Am liebsten würde sie Lebowitz jetzt sofort ihre Zunge ins Ohr stecken.
»Sam?«
»Was ist?«
»Danke, dass Sie mich wegen der DNA angerufen haben und es nicht nur Lowry erzählt haben. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«
»Ich konnte nicht anders«, sagt Lebowitz. »Ich bin Knicks-Fan. Ich steh auf Underdogs.«
»Da ist noch was.«
»Was denn?«
»Als Sie vorhin gesagt haben, Sie würden nicht auf dünne tote Mädchen stehen, war das bloß ein Spruch? Oder meinen Sie das ernst?«
»Bitterernst«, sagt Lebowitz und grinst, nimmt das Auge aber nicht vom Mikroskop. »Frauen mit pochenden Herzen finde ich unwiderstehlich.«
»Ein Letztes noch, Sam.«
»Was denn, Darlene?«
»Gibt’s da irgendwas zu sehen?«
»Ja.«
»Was?«
»Tinte.«
19
Wer nicht glaubt, dass Frauen bescheuert sind, sollte sich mal am Samstagnachmittag in den Besucherraum von Rikers Island setzen. In dem verdreckten Saal stehen zweihundert Plastikstühle und auf jedem sitzt eine bis zum Anschlag aufgedonnerte Frau. Die einzigen männlichen Besucher sind Babys und Kleinkinder. Diesen Mädchen steht das Wasser bis zum Hals und sie investieren sehr viel mehr Geld und Energie, als sie sich leisten können, um irgendeinem Blödmann mordsmäßig was vorzumachen. Sogar die Kinder sind in Minilederjäckchen und Baby Gap herausgeputzt.
In ihrem stinknormalen Mantel, der schlichten Hose und den bequemen Schuhen wirkt O’Hara verdächtig schlecht gekleidet. Trotzdem erntet sie größtenteils freundliche Blicke, weil die Mädchen sie für eine halten, die in demselben lecken Boot sitzt wie sie selbst. Bis ein Wärter sie aus dem Raum führt. »Und was ist mit mir?«, schreit ein Mädchen, das kaum älter als neunzehn sein kann. »Ich sitze schon seit zwei Stunden hier und
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