Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
die ist erst vor zwanzig Minuten gekommen.«
»Die gehört zu den Bullen«, erklärt ihr eine, die schlauer ist.
Der Wärter führt O’Hara durch einen nach verdünntem Putzmittel stinkenden Gang in einen schmalen, durch eine Plexiglaswand geteilten Raum. Die Insassen sitzen auf der einen Seite, die Mädchen und Kinder auf der anderen. Obwohl der Raum überfüllt ist, wirkt er bemerkenswert leise, da sich alle anstrengen, so etwas wie Privatsphäre entstehen zu lassen. Sogar die Kinder.
McLain hat einen Platz mehr oder weniger in der Mitte. Als O’Hara ihm gegenüber Platz nimmt, fällt ihr sofort die Beule über seinem rechten Auge, die dicke Lippe und die Platzwunde seitlich an seinem Kopf auf. Die einzig gute Nachricht ist, dass er sich offenbar wehrt. Seine Fingerknöchel an beiden Händen sind geschwollen und aufgeschlagen.
»Ich hoffe, du haust zurück«, sagt O’Hara.
»Hab keine andere Wahl.«
»Tut mir leid«, sagt O’Hara, »und tut mir auch leid, dass ich auf dem Revier nicht mehr für dich tun konnte. Aber ich muss dich etwas fragen – war Francesca tätowiert?
»Ja.«
»Wo?«
»Sie hatte nur eine Tätowierung … am Po, oben rechts. Als sie Ende September nach Hause kam, hatte sie sich das Tattoo gerade erst stechen lassen.«
»Weißt du, was es war?«
»Ich erinnere mich nur an ein großes Herz mit einem S drin, aber ich hab’s kaum gesehen. Francesca meinte, es hätte mit ihrem Vater zu tun und sie wollte nicht darüber reden, was ich komisch fand. Ich meine, wenn man nicht will, dass es auffällt, dann sollte man sich auch kein Tattoo stechen lassen. Aber weil ihr Vater Junkie war und an Aids starb, war die Zeit in Chicago für sie sowieso ziemlich abgefahren. Deshalb hab ich nicht weiter nachgebohrt.«
»Hat Francesca mal einen gewissen Tommy erwähnt?«
»Wer ist das?«, fragt McLain, darum bemüht, sich seine Verletztheit nicht anmerken zu lassen.
»Ich weiß es nicht. Ich habe einen Zettel in ihrem Spind gefunden.«
Als McLain den Kopf schüttelt, zieht O’Hara eine Karte aus der Brieftasche und hält sie an die Glasscheibe. »Ich weiß, dass dir ein Pflichtverteidiger zugewiesen wurde. Aber das hier ist eine Anwältin, die was draufhat. Sie heißt Jane Anne Murray. Sie rechnet mit deinem Anruf. Aber erwähne meinen Namen nicht am Telefon. Wahrscheinlich werden deine Gespräche von einem Beamten abgehört.«
20
New York Hardcore Tattoos and Piercing ist so lang und schmal wie eine Kegelbahn und ausstaffiert wie ein alter Herrenfriseur. Als O’Hara den Laden um 21 Uhr betritt, der Hauptgeschäftszeit für Tattoostudios, sitzen auf den Stühlen vor den Spiegeln nur die drei tätowierten Angestellten. Vorne im Laden überfliegt O’Hara ein Regal mit Hardcore-Zeitschriften und mit CDs von Bands wie Turnpike Wrecks, Last Call Brawl und Heartfelt Discord. Dann blättert sie einige der unzähligen Vorlagen auf den großen laminierten Karten durch, die in Halterungen an der Wand hängen.
Die erste erinnert O’Hara an Höhlenmalerei. Es gibt einen Entwurf von jedem einzelnen Wesen in der Nahrungskette, wobei unverhältnismäßig viele darunter sind, die eine Kippe im Mundwinkel haben. Andere Vorlagen stellen patriotische Symbole einzelner Länder dar (Irland, Puerto Rico) oder die Insignien bestimmter Institutionen (dem U. S. Marine Corps oder Mutti). Die meisten aber bestehen aus den Namen der Lieblingsdroge des jeweils Tätowierten, also billigem Schnaps, harten Drogen oder Mädchen. Mädchen sind überdurchschnittlich stark repräsentiert. Eine scharfe Braut mit Netzstrümpfen, Teufelshörnen und einem langen roten Schwanz blinzelt O’Hara über die Schulter hinweg von der Mitte einer Seite entgegen. Nicht weit von ihr entfernt lässt eine andere Verführerin im Engelslook den Schlüssel zu dem Schloss zwischen ihren Beinen vom Finger baumeln. Als O’Hara von einer Seite mit zwei weiblichen Kampfmaschinen auf eine mit rauchenden Kanonenläufen und bluttriefenden Messerklingen umblättert, wird ihr bewusst, dass das Zeug eigentlich ein Fall für die Polizei ist oder zumindest zu der Sorte von aufrührerischem Mist gehört, der den Bullen Arbeit verschafft.
Viele Entwürfe sind aber auch so detailreich, witzig und phantasievoll, dass sie ein Lächeln auf O’Haras Gesicht zaubern. Besonders eine Vorlage lässt sie laut lachen, denn sie erinnert sie an den geschwätzigen kleinen Iren Russ Dineen. Das Tattoo zeigt einen Sensenmann, der ganz offensichtlich in der
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