Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
polnischen Hausmeister an, der ihr Gummihandschuhe und eine Plastiktüte besorgt. Statt mit hineinzugehen, was bedeuten würde, dass der Umkleideraum der Mädchen vorübergehend gesperrt werden müsste, händigt er O’Hara den Generalschlüssel aus. Nummer 117 befindet sich am Ende einer Reihe mit großen Spinden, die den Universitätsathleten vorbehalten sind. Mehrere Paar Turnschuhe stapeln sich am Boden und Shorts, T-Shirts und Sport-BHs hängen an Haken. Auf einem Regal oben liegt neben verschiedenen Toilettenartikeln ein kleiner Stapel mit Briefen. Als sie diese herausnimmt, sieht sie, dass sie alle von ein und derselben Person stammen. Vorsichtig öffnet O’Hara einen davon. »Ich komme mir vor, als wäre ich an der falschen Station aus der Bahn gestiegen und alle lachen über mich. Ich glaube, du hast deine Entscheidung überstürzt getroffen und wirst es bereuen. Aber jetzt im Moment will ich dich eigentlich nur ficken, ganz schlicht und einfach.« Die stumpfe Geilheit, die aus der letzten Zeile spricht, überrumpelt O’Hara und macht ihr bewusst, dass es viel zu lange her ist, dass sie das letzte Mal etwas Vergleichbares empfand. Sie öffnet und liest die vier anderen Briefe, die alle in demselben direkten Tonfall von Abweisung zeugen. Alle fünf sind mit »Tommy« unterzeichnet.
O’Hara steckt sie vorsichtig in die Plastiktüte und geht zu ihrem Wagen. Zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits so erschöpft, dass sie kaum noch geradeaus gucken kann. Aber eine Frage schießt ihr trotzdem unwillkürlich in den Kopf. Wenn sich Pena von einem Jungen, der Truthahnfüllung und Preiselbeersauce selbst macht, nicht überzeugen ließ und man sie auch mit aufrichtiger Begierde nicht herumkriegte, wen oder was wollte sie dann?
18
Nach eineinhalb traumlos durchschlafenen Nächten lenkt O’Hara ihren Jetta auf die Henry Hudson Bridge und nach Lower Manhattan. Ihr kurzer Ausflug in die Mordkommission ist beendet und jetzt heißt es wieder zurück zum üblichen im 7. Bezirk anfallenden Blödsinn. Als O’Hara die George Washington Bridge passiert und am Seventy-Ninth Street Boat Basin und dem neuen von Trump errichteten Ungetüm vorbeifährt, ist sie seltsamerweise aber nicht niedergeschlagen. Als sie an der 24th Street ankommt, ihr Handy aufklappt und die Nummer des Reviers wählt, wird ihr klar, warum. Sie hatte nie vorgehabt, zu ihrer gewohnten Arbeit zurückzukehren.
»Ich brauche einen freien Tag, Sarge«, erklärt sie Callahan. »Ich bin fix und fertig.«
»Dann nimm ihn dir, Darlene, hast ihn dir verdient. Mehr als verdient.« Wäre Callahan nicht so ein unfähiger Wichser, hätte sie fast ein schlechtes Gewissen bekommen.
O’Hara fährt die 1st Avenue in östlicher Richtung weiter und parkt ihren klapprigen Jetta, dem man seine 160 000 Kilometer ansieht, auf der 31st Street und marschiert in das Büro des Gerichtsmediziners. Lebowitz’ Tür ist geschlossen und als sie klopft, hört sie ihn hastig eine Schublade zuschieben. Dann bittet er sie herein.
»Arbeiten Sie an Ihrem Drehbuch?«, fragt O’Hara.
»Kein Drehbuch«, sagt Lebowitz, zieht die Schublade auf und hält ihr die medizinische Fachzeitschrift entgegen, bei deren Lektüre sie ihn unterbrochen hat. Wenn sich O’Hara nicht täuscht, wird der 32-jährige Gerichtsmedizinier rot. »Und ich gehöre auch nicht zum Beraterstab von Law & Order oder The Wire. Obwohl ich wahrscheinlich der Einzige hier bin.«
»Mögen Sie Geld nicht?«
»Kann ich nicht beurteilen, ich hatte nie welches. Aber ich mag meinen Job, so wie er ist. Ich will nicht etwas daraus machen, was er nicht ist. Sind Sie wegen Pena hier?«
»Ja«, sagt O’Hara. »Ich hatte gehofft, sie mir noch einmal ansehen zu dürfen. Ich versuche, aus diesen vielen Wunden schlau zu werden, besonders den Kerben.«
»Das ist eine ungewöhnliche Art, jemanden zu foltern«, sagt Lebowitz. »Und viel Arbeit.«
Während Lebowitz O’Hara den Gang entlangführt, erlebt sie die nächste Überraschung an diesem Morgen. Lebowitz errötet nicht nur und meidet den direkten Blickkontakt, er bewegt sich auch sehr gut, sehr athletisch. In der Leichenhalle zieht er Penas Leichnam aus dem Kühlfach auf eine Rollbahre und zieht den Reißverschluss des schweren Plastiksacks auf. Die auf dem Rücken liegende Pena wirkt gespenstisch. Mit ihrem zierlichen Oberkörper und den stämmigen, kräftigen Oberschenkeln ist sie wie eine typische Langstreckenläuferin gebaut. »Ein beeindruckender Körper«, sagt
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