Die letzte Lüge: Thriller (German Edition)
sie einen Teller in der einen Hand und Kaffee in der anderen.
»Sie müssen meinen Pflaumenkuchen probieren«, beharrt Johnson. »Das ist das Einzige, was ich richtig gut kann.« O’Hara, die seit einem Monat nichts richtig Gutes mehr gegessen hat, muss nicht überredet werden.
Während O’Hara reinhaut, zieht Johnson ein Fotoalbum aus dem Regal und setzt sich neben sie auf die Couch. »In den vergangenen 23 Jahren wohnten 91 Kinder bei mir und Albert in diesem Haus«, sagt Johnson und blättert die Seiten mit arthritisch verkrampfter Hand vorsichtig um. »Jedes Einzelne davon war durch die Hölle gegangen, bevor es hierherkam.«
Johnson deutet auf einen dünnen Jungen von sechs Jahren, der trotzig in die Kamera starrt. »Dieser junge Herr hier heißt Arthur Henderson. Er war fünf Jahre lang bei uns. Jetzt arbeitet er als Computertechniker.« O’Hara nippt geduldig an ihrem Kaffee, während ihr Johnson ein junges Mädchen zeigt, das gerade die Aufnahmeprüfungen für die Highschool geschafft hat, ein anderes, das Lehrerin wurde, und einen jungen Mann, der 28 Dollar die Stunde bei der Gepäckabfertigung am Kennedy Airport verdient. »Bis jetzt noch keine Ärzte oder Anwälte. Aber vielleicht kommt das noch.«
Irgendwann bleibt Johnsons Finger unter einem Bild von zwei jungen Mädchen stehen, augenscheinlich sind es Schwestern. Beide haben die Haare zu festen Zöpfen geflochten. Die Jüngere lächelt schüchtern und hat den Arm um die Schultern ihrer älteren Schwester gelegt, die ihr heimlich mit zwei Fingern Hasenohren macht. »Dieses intelligente und freche Mädchen ist Moreal Entonces«, sagt sie. »Und das ist natürlich Consuela. Ist nicht leicht, sich das Bild heute anzusehen, was? Moreal war elf, Consuela neun.«
»Donna, was hielten Sie davon, als das Jugendamt die Kinder wieder der Mutter zusprach.«
»Wir waren fassungslos. Albert und ich hatten lange genug Kinder bei uns aufgenommen, um zu wissen, dass die Mutter immer den Vorzug bekommt. Aber Tida war zwanzig Jahre lang Junkie gewesen und erst seit sechs Monaten clean. Das war mindestens ein Jahr zu früh. Dabei hatten die beiden erst gerade so die Kurve gekriegt. Nach nur zehn Monaten bei uns waren sie viel besser in der Schule, benahmen sich besser und kamen besser mit den anderen Kindern klar.«
»Wieso wurde es dann so verfügt?«
»Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass vor allem Francesca Pena dafür verantwortlich war. Sie hat dem Jugendamt was vorgemacht, so wie sie uns allen etwas vorgemacht hat. Und sie hat alles darangesetzt. Sie hat sich nicht nur für Tida verbürgt, sie hat auch Briefe an die Sachbearbeiter und ihren Bewährungshelfer geschrieben, sogar an unsere Kongressabgeordnete hier im Bezirk. Und da die Briefe von einer Studentin der NYU, einer vornehmen Universität, kamen, einer jungen Frau, der es selbst gelungen war, ihrem Leben eine neue Wendung zu geben, wirkten sie sehr überzeugend.«
O’Hara und Johnson sitzen nebeneinander und starren das Bild der beiden Schwestern an. Obwohl das Foto zwei Jahre alt ist, wirkt Consuelas Gesicht kaum anders als im Video.
»Was wird aus Tida werden, Detective? Ich meine, wenn die Geschworenen entscheiden, dass sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann? Schreibt sie dann ein Buch? Geht sie in Talkshows? Werde ich sie bei Oprah auf dem Sofa sehen? Besteht vielleicht sogar die Chance, dass sie ihre Mädchen wieder bekommt?«
»Nein«, sagt O’Hara.
»Ich wünschte nur, ich könnte da auch so sicher sein wie Sie«, sagt Johnson. Sie legt einen warmen fleischigen Arm um O’Hara und betrachtet sie mit gespieltem Entsetzen.
»Mädchen, ich schneide Ihnen noch ein schönes Stück ab. Sie sind ja nur noch Haut und Knochen.«
49
Von Fort Greene aus lenkt O’Hara ihren Wagen über den Brooklyn Queens Expressway bis zum Grand Central Parkway, fährt am Astoria Boulevard ab und über die 23rd Avenue bis zu einem riesigen eingezäunten Parkplatz am Rande des East River. Am Ende des Parkplatzes winkt sie ein Wächter auf eine zweispurige Brücke ohne Namen und sie fährt knapp zwei Kilometer weit über Wasser. Der LaGuardia Airport liegt so nah zu ihrer Rechten, dass der Lärm der landenden Flugzeuge ohrenbetäubend ist und sie die Lichter erkennen kann, die den Piloten den Weg zur Startbahn 13/3 weisen.
Rikers Island, die landesweit größte Strafkolonie, wurde auf einer 170 Hektar großen Müllinsel 16 Kilometer von der Freiheitsstatue entfernt erbaut. Die Insel liegt
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