Pendergast 08 - Darkness - Wettlauf mit der Zeit
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Nichts bewegte sich in der Weite des Llölung-Tales außer zwei kleine, schwarze Punkte, kaum größer als die vom Frost rissigen Felsbrocken, die den Talboden bedeckten; langsam mühten sich die Gestalten den kaum erkennbaren Pfad entlang. Das Tal war öde, kein Baum wuchs hier. Der Wind wisperte zwischen den Felsen, die Schreie der schwarzen Malaienadler hallten von den steilen Felshängen wider. Die Gestalten waren zu Pferde und näherten sich einer riesigen, knapp siebenhundert Meter hohen Felswand aus Granit, aus der sich ein schmaler Wasserfall ergoss – die Quelle des heiligen Flusses Tsangpo. Der Pfad mündete in eine schmale Schlucht, die die Felswand einkerbte, tauchte ein Stückchen weiter oben als Einschnitt in die Felswand wieder auf, verlief schließlich auf einem langgestreckten Bergkamm, bevor er nach einer Weile zwischen gezackten Gipfeln und Felsschluchten wieder verschwand. Im Hintergrund erhob sich als ein Bildnis immenser Kraft und Erhabenheit das ewige Eis dreier Bergriesen des Himalaya. Auf dem Dhaulagiri, dem Annapurna und dem Manaslu wehten Fahnen aus Schnee, während hinter ihnen ein eisengraues Meer aus Sturmwolken wogte.
Im Tal ritten die beiden Gestalten bergan, den Oberkörper zum Schutz gegen den kalten Wind nach vorn gebeugt. Es war die letzte Etappe einer langen Reise, und trotz des aufkommenden Unwetters ritten sie langsam; ihre Pferde standen am Rand der Erschöpfung. Vor dem Eingang zur Felsschlucht überquerten sie einen reißenden Wildbach, einmal und dann noch einmal. Gemächlich verschwanden sie in der Schlucht.
Die beiden Gestalten folgten weiter dem kaum erkennbaren Pfad, der über den rauschenden Gebirgsbach aufstieg. Dort, wo die granitene Felswand auf den mit Felsbrocken übersäten, schattigen Talgrund traf, lagen Felder ewigen Eises. Der Wind frischte auf, jagte dunkle Wolken über den Himmel und heulte in den oberen Bereichen der Schlucht.
Unten an der mächtigen Felswand änderte der Pfad jäh seinen Verlauf, stieg durch einen steilen, beängstigend engen Einschnitt im Fels empor. Auf einer vorspringenden Felszunge lag eine uralte Wachstation in Ruinen: vier zerbrochene Steinmauern, die nichts stützten als eine Reihe von Schwarzdrosseln. Ganz unten am Einschnitt stand ein großer
mani
-Stein, in dessen Oberfläche ein tibetisches Gebet gemeißelt war, blank gerieben und poliert von den Händen jener Abertausenden, die sich einen Segen erwünschten, ehe sie den gefahrvollen Aufstieg wagten.
An der Wachstation saßen die beiden Reisenden ab. Von hier ging es nur zu Fuß weiter, sie mussten die Pferde den schmalen Pfad hinaufführen, denn der Überhang war so niedrig, dass kein Reiter darunter hindurch gelangte. Hier und da hatten Abgänge des blanken Felsgesteins den Pfad unter sich begraben; diese Abschnitte wurden von roh gezimmerten Planken und in den Fels getriebenen Stangen überbrückt, wodurch eine Reihe schmaler, knarrender Brücken ohne Geländer entstanden war. An anderen Stellen war der Pfad so steil, dass die Reisenden und ihre Pferde in den Fels geschlagene Stufen erklimmen mussten, die durch den Aufstieg zahlloser Pilger glatt und uneben geworden waren.
Abrupt änderte der Wind seine Richtung, er pfiff durch die Felsschlucht und führte Schneeflocken mit sich. Der Sturmschatten fiel in die Klamm, tauchte sie in nachttiefe Finsternis. Dennoch folgten die beiden Gestalten dem schwindelerregenden Pfad unverdrossen weiter hinauf, über die vereisten Treppenstufen und Felssteigungen. Bei ihrem Aufstieg hallte das Rauschen des Wasserfalls eigentümlich zwischen den Felswänden wider und vermischte sich mit dem auffrischenden Wind wie geheimnisvolle Stimmen, die in einer fremden Sprache redeten.
Als die Reisenden schließlich den Bergkamm erreichten, wären sie fast gegen den Wind nicht angekommen, er ließ ihre Mäntel flattern und blies ihnen schmerzhaft ins Gesicht. Sie beugten sich vor, um sich zu schützen, zogen die widerstrebenden Pferde weiter den Felsgrat entlang, bis sie die Überreste eines verfallenen Dorfes erreichten. Es war ein öder Ort, die Häuser niedergeworfen durch irgendeine uralte Katastrophe, das Bauholz lag verstreut und zerborsten, die Lehmziegel hatten sich aufgelöst und wieder mit der Erde vermischt, aus der sie geformt waren.
In der Mitte des Dorfes erhob sich eine niedrige Pyramide aus Gebetssteinen; oben ragte eine kleine Stange daraus hervor, an der Dutzende ausgefranster Gebetsfähnchen im Wind knatterten. Zur
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