Die letzte Nacht der Unschuld
was er tun konnte. Denn so sehr er seinen Körper auch antrieb, sein Gehirn machte nicht mit.
„Vergessen Sie nicht, welches Glück Sie hatten, dass Sie überlebt haben, Cristiano.“
Er hob den Kopf und sah die Ärztin voller Verzweiflung an. „Wenn ich nicht wieder fahren kann, wäre es vielleicht besser gewesen, wenn es nicht so wäre.“
Nachdenklich tippte Dr. Fournier sich mit einer Fingerspitze gegen die Lippen. „Wann waren Sie das letzte Mal im Urlaub?“
Er zuckte mit den Schultern. „Nichtstun war nie mein Ding.“
„Körperlich haben Sie sich getrieben, so weit Sie konnten. Vielleicht sollten Sie sich eine Pause gönnen. Sich Zeit zum Nachdenken geben.“
„Nein, danke.“ Sein Leben lang hatte Cristiano Zeit zum Nachdenken vermieden. Das war überhaupt die treibende Kraft hinter allem, was er tat. Nicht nachdenken zu müssen.
Dr. Fournier zuckte leicht mit einer Schulter. „Es ist einen Versuch wert. Vielleicht kehrt die Erinnerung dann zurück. Es ist gerade so, als hätten Sie nach dem Unfall beweisen wollen, dass Sie schneller, stärker und besser sind als vorher. Das ist Ihnen gelungen, herzlichen Glückwunsch. Körperlich sind Sie in Topform. Mental jedoch …“
„Danke, Doktor.“ Sein Lächeln war frostig. „Ich brauche keinen Hinweis auf meinen mentalen Ausfall.“
„Es ist kein Ausfall, wenn man Zeit braucht, um über ein Trauma hinwegzukommen – und ich sage das nicht als Ihre Ärztin, sondern als Freundin. Ich besitze ein Chalet in den Alpen, in der Nähe von Courchevel. Es liegt ziemlich isoliert, aber eine Haushälterin kümmert sich um alles Notwendige, und dort lässt sich ganz großartig Ski fahren.“ Sie zog eine Schublade auf und holte ein Schlüsselbund hervor. Die Schlüssel klimperten leise, als Dr. Fournier sie ihm hinhielt. „Bleiben Sie, so lange Sie wollen.“
Und weil er alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte und verzweifelt war, weil es der letzte Hoffnungsstreifen an einem immer dunkler werdenden Horizont war, nahm Cristiano die Schlüssel an.
„Fahren Sie hin, Cristiano, und fahren Sie bald“, sagte die Ärztin ernst.
2. KAPITEL
„Du meine Güte! Du ahnst nicht, wer gerade ankommt!“
Bei Lisas aufgeregtem Aufschrei zuckte Colleen erschrocken zusammen. Fast hätte sie sich dabei mit dem Mascara-Bürstchen ins Auge gestochen.
„Dann sag’s mir.“
Lisa, in einem eng anliegenden kurzen Paillettenkleid, das ihre perfekte Figur bestens zur Geltung brachte, stand am Fenster des Hotelzimmers, das freien Blick auf das Casino-Portal bot. Die Gäste der Campano-Party trafen ein, eine nicht abreißen wollende Prozession von glänzenden, teuren Autos, aus denen die Schönen und Reichen ausstiegen und durch den berühmten Belle Epoque-Eingang ins Innere verschwanden.
„Moment … nein, doch nicht.“ Die Enttäuschung war deutlich in Lisas Stimme zu hören. „Ich dachte, es wäre Maresca. Aber der da ist zu klein …“
Aus dem Spiegel starrten Colleen die eigenen Augen entgegen, groß, verängstigt und fremd mit dem Make-up. Ihre schweißfeuchten Finger machten das Schminken zu einem riskanten Unterfangen. Wie hatte sie sich nur je einbilden können, sie würde es schaffen, das durchzuziehen?
Lisa nahm ihr Glas Wodka-Tonic in die Hand, den sie sich aus der Mini-Bar genehmigt hatte, und verließ ihren Wachposten. „Wow!“ Fast hätte sie sich verschluckt. „Miss Edwards, wer hätte ahnen können, dass du mit ein wenig Putz so viel hermachst?!“ Staunend umrundete sie Colleen. Die war nicht sicher, ob sie geschmeichelt oder beleidigt sein sollte. „Dieses Kleid ist absolut fantastisch. Und wie hast du die ganze Zeit diese Figur versteckt?“
„Das Kleid hat Lizzie ausgesucht“, murmelte Colleen und zog den Ausschnitt etwas höher. „Ich hätte niemals etwas so Freizügiges gewählt. Meinst du nicht, dass es zu gewagt ist?“
Lisa war mit Sicherheit nicht die Richtige, um das zu beurteilen angesichts des knappen Paillettenkleides, das sie trug.
„Auf gar keinen Fall.“ Bewundernd musterte sie Colleen in dem dunkelblauen Satinkleid mit Strassbesatz. Dann schüttelte sie den Kopf. „Ich habe ja immer vermutet, dass hinter der grauen Maus, die du im Büro gibst, sehr viel mehr Glanz steckt.“
Colleen schlüpfte in die unmöglich hohen Pumps, die Lizzie ihr aufgedrängt hatte. „Oh nein, so viel mehr ist da gar nicht. Ich bin einer der glanzlosesten Menschen der Welt – ehrlich.“
Lisa trat vor den Spiegel und legte Lippenstift auf.
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