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Die letzte Praline

Die letzte Praline

Titel: Die letzte Praline Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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Eindruck vermittelten, als befände man sich mitten in einem historischen Bilderbuch. Sie schilderten die ruhmreiche Vergangenheit der alten Handelsstadt. Selbst mit Gold war gemalt worden, die Decken gingen hoch hinauf, ebenso die Fenster. Der Saal erzählte mit jedem Quadratzentimeter von Reichtum und Pracht.
    Zehn Kochstellen waren darin aufgebaut worden, in zwei Reihen und mit exakt demselben Abstand zueinander. Die Chocolatiers durften ihren Arbeitsplatz erstmals in Augenschein nehmen, Herd und Ofen austesten und ihre Kochutensilien bereitlegen für die morgige erste Runde, doch beginnen durften sie noch nicht. Es hätte auch wenig Sinn gemacht, denn erst morgen wurde ihnen der Wein genannt – und jeweils eine Flasche übergeben –, zu dem sie eine Praline kreieren sollten. Ob es ein Weiß-, Rot- oder Roséwein sein würde, ein trockener oder süßer, nichts war im Vorfeld bekannt. Deshalb hatten sich die Chocolatiers mit Gewürzen, Obst, Nüssen und anderen Zutaten für alle denkbaren Kreationen eingedeckt.
    Nur Edward Macallan nicht. Dieser Schotte stellte demonstrativ eine Zweiliterflasche mit Rinderblut auf die Arbeitsplatte und ließ einige Stücke Schweinespeck im Backofen trocknen. Er machte seinem Ruf alle Ehre.
    Die Pressefotografen stürzten sich auf ihn.
    Adalbert blickte sich um. Alle Kandidaten waren da – bis auf Jana Elisa da Costa, die schweigsame Schönheit aus Brasilien. Ihr Tisch war leer.
    Der Professor behielt Jón Gnarr und Pierre Cloizel genau im Blick. Ob sich noch eine Gelegenheit ergab, mit ihnen über ihre Beziehung zu Beatrice Reekmans zu sprechen? Er hoffte es sehr.
    »Ist das Ihr Foxterrier, Herr Professor?«, war plötzlich Macallans Stimme zu hören. »Er bewegt sich keinen Zentimeter von meinem Backofen weg.«
    Adalbert wandte sich um. »Weil er ein kluger Hund ist und in dem Backofen Speck. Aber keine Sorge, er ist, soweit ich Kenntnis habe, nicht in der Lage, die Tür zu öffnen. Doch er lernt schnell.«
    Bietigheim trat sicherheitshalber zum Backofen und hob den empört strampelnden Benno empor – es war wohl an der Zeit zu gehen. Hier wurde er momentan ohnehin nicht benötigt, die Atmosphäre war angespannt, die Kandidaten beäugten sich wie Gladiatoren vor einem Kampf, und er würde erst morgen beurteilen, wie der Arbeitsplatz und das Mise en Place, also die Vorbereitung und Anordnung der Zutaten, gelungen war. Gnarr und Cloizel würden ihm nicht weglaufen – und hier vor aller Augen würden sie sowieso nicht mit ihm sprechen.
    Um den immer noch zappelnden Benno zu beruhigen, verabreichte er ihm einen der Eichendorff’schen Hundekuchen – er wirkte sofort. Benno war mit einem Mal zahm wie ein Lämmchen. Er ging sogar ohne Leine brav bei Fuß.
    Was steckte bloß für ein Kraut in dem Canidengebäck?
    Baldrian, Engelskraut oder Haschisch?
    Eigentlich war es ihm völlig egal. Der neue, bekekste Benno passte wunderbar zu ihm.
    Die Gänge des Rathauses waren dunkel und leer, denn alle Mitarbeiter hatten längst Feierabend. Nur der Saal mit den Chocolatiers war belebt, Publikum heute jedoch noch nicht zugelassen.
    Als Bietigheim um eine Ecke bog, sah er Jana Elisa da Costa auf sich zukommen, doch sie war nicht allein.
    Hinter ihr schlich ein Mann, der nicht nach Brügge passte, ja nicht einmal nach Europa und ganz sicher nicht in diese Zeit.
    Er trug einen hauchdünnen, eng anliegenden schwarzen Ganzkörperoverall, der alles bedeckte, sogar sein Gesicht. Darüber einen Lendenschurz und ein Jaguarfell um seine Schultern, das am Hals zusammengebunden war. Ein aufgerissener Jaguarschädel zierte seinen Kopf. Es wirkte, als blicke einem das vermummte Gesicht des Mannes aus dem Rachen des Raubtiers entgegen.
    Als er den Professor erblickte, hob er blitzschnell den rechten Arm, in dem er eine Art Schlagstock von der Breite eines Paddels hielt, holte aus – und versetzte der dunkelhaarigen Brasilianerin einen kräftigen Schlag auf den Kopf.
    Jana Elisa da Costa ging sofort zu Boden.
    Dann rannte der Verkleidete davon.
    Adalbert stürzte zu der bewusstlosen Frau und fühlte ihre Halsschlagader.
    Sie hatte noch einen Puls.
    Die Schritte des Angreifers hallten in dem langen Gang nach, während Adalbert die junge Patissière zu einer nahe stehenden Sitzbank trug.
    Es kam selten vor, dass er sich wünschte, eines dieser tragbaren Telefone zu besitzen – doch dies war ein solcher Moment.
    Und es war ein Moment – der erste in seinem Leben –, in dem ihm ein Mann mit Jaguarschädel

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