Kuss der Sünde (German Edition)
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W
enn dieser Lärm nicht endlich aufhörte, würde sein Kopf ber s ten. Das dumpfe Pochen zog von seinen Schläfen um die Augenhöhlen und strahlte bis in den Nacken aus. Olivier rollte zur Seite, drückte sein Gesicht in ein Kissen und betete um ein Ende dieser Marter. Erst als die Stimme von Lazare durch den Schmerz drang, begriff er, dass es an die Tür der Dachkammer hämmerte und nicht etwa in seinem Schädel.
„Maître, sind Sie wach? Maître!“
Nein, war er nicht . Mit einem unterdrückten Stöhnen öffnete er ein Auge und schlug es geschwind wieder zu, als sich ein Sonnenstrahl hineinbohrte. Helle Lichtfunken sprühten in der Dunkelheit seiner Lider auf, mischten sich mit den Schmerzwellen und verliehen der Folter eine neue Qualität. Er drüc k te die Hände an den Kopf und setzte sich auf. Dem Geschmack in seinem Mund nach zu urteilen, hatte er in der vergangenen Nacht seinen Durst in der Pariser Gosse gestillt. Oder vielleicht ein klein wenig zu viel Cognac getru n ken.
Bevor er ein zweites Mal die Augen aufschlug, beschattete er sie wohlwei s lich mit der Hand vor dem grellen Lichteinfall.
„Maître, Kundschaft!“, trompetete Lazare vor der Tür.
Formidabel, genau das brauchte er an einem verkaterten Morgen. Immerhin stellte Lazare sein Trommelfeuer ein.
„Einen Moment ! “, rief Olivier und bereute es so gleich. Seine raue Stimme löste die nächste Schmerzattacke hinter seiner Stirn aus. Vorsichtig erhob er sich und sah an sich h in ab . Hemd und Kniehosen zierten Flecken unbekan n ter Konsistenz. Dreckspritzer saßen auf seinen weißen Strümpfen, und an den Stiefeln klebte die Hälfte des Pariser Unrats. Eindeutig die falsche Verfassung, um einen Kunden zu empfangen. Mit einem tiefen Durchatmen warf er einen prüfenden Blick in den Spiegel über der Kommode. Rot unte r laufende Augen starrten ihm entgegen. Was war das an seinem Hals? Er brauchte unverhäl t nismäßig lange, um darauf zu kommen. „Danke Adrienne“, knurrte er und schlug den Hemdkragen hoch, um den Liebesbiss zu verbe r gen.
Wo hatte er Gehrock und Weste gelassen? Wo war sein Haarband? Auf e i ner vergeblichen Suche schweifte sein Blick durch die Dachkammer. In dem Bestreben , sein Haar zu glätten, fuhr er mit allen zehn Fingern hindurch, doch es schlug neue Wellen und streckte die Spitzen nach allen Seiten. Er gab es auf. Wen kümmerte schon sein Aussehen, solange er präzise Arbeiten vorle g te ? Ein letztes Mal zupfte er an den Knitterfalten seines Hemdes und stutzte. Verdammt! Um seine Fingerspitzen lag wieder dieser seltsam helle Schimmer. Hastig wühlte er in seinen Hosentaschen. Die Handschuhe trug er zum Glück noch bei sich. „Herein “, bat er.
Während sich die Tür öffnete und sein Kunde über die Schwelle trat, streifte er sich das weiche Leder über und zog es glatt. Erst dann sah er auf und sich einem schmächtigen Mann gegenüber, der einen Dreispitz an seine Brust presste und ihn aus eng zusammenstehenden Augen anglotzte. Olivier war exakt in der richtigen Stimmung, um diesen Wicht schweigend niederzustarren .
„Sind Sie Olivier Brionne?“
Was sollte diese dämliche Frage? Jeder, der in diese Dachkammer kam, wusste, wer ihn hier erwartete. Olivier beschränkte sich auf ein knappes N i cken und ein schnell gefasstes Urteil. Eine Perücke aus billigem Pferdehaar, bröseliger Perückenpuder, der bei jeder Kopfbewegung auf schmale Schultern rieselte, ein abgewetzter Anzug. Vermutlich wurde er von diesem Habenichts für die Ursache seines Elends gehalten – und er könnte sogar r echt haben.
„Der Olivier Brionne?“, hakte der Wicht nach und musterte ihn von seinen verdreckten Stiefeln bis zu seinem wirren Haarschopf.
Beschränkte Kunden erforderten stets etwas mehr Zeit. Olivier zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor, setzte sich und streckte die Beine aus . „Mir ist unbekannt, wie viele Männer meines Namens in Paris unterwegs sind, Mo n sieur. Falls Sie jemanden suchen, der sich auf Dokumente und Urkunden ve r steht, sind Sie hier richtig.“ Obwohl er kaum glaub t e, dass der Mann ihn b e zahlen konnte .
„Reteaux de Vilette“, stellte sich der Wicht vor. „Ich stehe im Dienst von Madame de La Motte.“
Wortlos hob Olivier eine Braue. Über diese Madame hatte er schon einiges gehört. Nichts davon klang sonderlich vertrauenswürdig.
„Sie schickt mich in einer Angelegenheit höchster Diskretion. Deshalb muss ich mich vergewissern. Sind Sie der Mann, der in gewissen Kreisen
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