Die letzte Reifung
zugestochen, bis sie tot war. Nein, ein einziger Stich, und der ging mitten durchs Herz – und das, obwohl er durch den Rücken stach. Bemerkenswert, oder? Man muss sich schon verdammt gut mit dem menschlichen Körper auskennen, um so genau zu treffen. Meine Güte, ich würde vermutlich ein Dutzend Mal die Lunge durchlöchern oder die Klinge an einer Rippe zerbrechen, bevor ich das Herz treffe. Da wusste einer ganz genau, was er tat. Und dann auch noch mit einem Käsemesser, das ist nicht unbedingt eine scharfe japanische Klinge. Morden können die hier, was? Ach so, Entschuldigung, Unfälle haben die hier! Na ja, dann bring ich die Fotos samt Negativen mal zum Bürgermeister. Der ausnahmsweise mal gut bezahlt. Und heute Abend trinken wir einen auf den unerwarteten Geldsegen! Einen Käse hab ich vom Bürgermeister übrigens auch noch geschenkt bekommen.« Er zog ihn aus der Umhängetasche, die Benno gerade erst als Schlafplatz auserkoren hatte. Der Käse sah nun aus wie ein Pfannkuchen.
Das Gästezimmer war für den Hausstauballergiker Adalbert Bietigheim der Supergau. Er verbrachte volle drei Stunden damit, den Raum, der kaum größer als eine Toilette war, komplett auszuräumen, vom Staub zu befreien, zu saugen, nass aufzuwischen und einige stumpf aussehende Ecken sowie die Möbel zu polieren. Das braun gebeizt wirkende Tischchen neben der Tür entpuppte sich nach zwei Schrubbdurchgängen als hellbeige. Am Ende war es zwar immer noch eine Abstellkammer, aber immerhin eine begehbare. Das Fenster würde er bis morgen offen lassen müssen, was für einen Frischluftfanatiker wie ihn keine Beeinträchtigung darstellte.
Es dämmerte bereits, und breite Streifen Pastellkreide in Veilchenblau, Rosa, Fackelrot und Orchideenfarben schmückten den Himmel des Burgunds, als Jan ihn in die Hostellerie de Charlemagne einlud, das erste Haus am Platze. Ein Hotelrestaurant mit den im Sommer üblichen Plastikstühlen auf dem Bürgersteig. So konnte man das schöne Wetter genießen sowie unzählige Jugendliche auf frisierten Mofas. Ohne Bietigheim zu fragen, was dieser essen wolle, bestellte Jan zweimal Coq au Vin, denn das war hier die Spezialität. Der Professor sei selbstverständlich eingeladen, keine Widerworte, das gehöre sich so. Er werde sich dafür bei Gelegenheit sicher revanchieren.
Aha, dachte Bietigheim. Werde ich das. Na, wunderbar.
Auch den Wein wählte Jan aus – was zu Ungunsten des Getränks ausfiel, da es den Geiz der Siegerland-Bietigheims demonstrierte. Ein einfacher Aligoté, der Müller-Thurgau des Burgunds. Und er passte überhaupt nicht zum Coq au Vin.
»Den trinkt man hier!«, erläuterte Jan. »Ein ehrlicher Landwein, nicht so was Versnobtes. Einige Pullen kosten hier ja ein Irrsinnsgeld. Also, diese Winzer …« Er bedeutete mit dem Finger, dass bei denen wohl einige Schrauben locker waren. Bietigheim nickte weder zustimmend, noch lächelte er. Den ganzen Tag hatte die Wut über den vertuschten Mord in ihm gegoren, und bald würde sie überschäumen.
»Was ist denn, liebster Verwandter?«, fragte Jan. »Bist du schlecht gelaunt?«
»Ein Verbrechen ist verübt worden«, konstatierte Bietigheim. »Da kann man nicht gut gelaunt sein.«
»Ach, was! Im Burgund ist man immer gut gelaunt. Savoir vivre nennt man das. Kann manchmal sehr anstrengend sein, glaub's mir. Am besten ist, du machst einfach mit. Das habe ich auch erst lernen müssen. Und, ehrlich gesagt, brauche ich immer noch ein paar Promille, um mich richtig gehen lassen zu können, das ist das Deutsche in mir – unkaputtbar. Prost! Nun stoß schon mit mir an. Sei doch nicht so!«
Bietigheim wollte nicht ungesellig sein. Selbst mit seinen Studenten ging er ab und an etwas trinken. Am Ende des Semesters. Ein Glas. Schorle. Des Frohsinns wegen.
»Na, also, geht doch«, kommentierte Jan. »Siehst gleich rosiger aus.«
Das Essen ließ nicht lange auf sich warten. Als Bietigheim es sah, wusste er auch, warum. Konsistenz und Farbe ließen auf die Hinterlassenschaft eines seekranken Elefanten schließen. Ein Verwesungsbraun über einem Klumpen … ja, über was eigentlich? Es ließ sich nicht einmal erahnen, welcher Teil des Huhns vor Bietigheim lag. Er schnüffelte an der Speise. Wo der Wein in der Sauce geblieben war, blieb ebenfalls das Geheimnis des Kochs. Bietigheim schoss ein Foto. Und griff zur Gabel.
Das Kauen nahm viel Zeit in Anspruch.
»Also, das muss man gegessen haben! Sonst glaubt man es nicht«, stieß er danach aus. »Das ist so
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