Die letzte Reifung
anderen Restaurantgäste sahen sogleich wieder auf ihr Essen und spachtelten hastig. Räuspernd setzte er sich und rückte seinen Kragenknoten zurecht. »Diesen Mordfall gilt es schnell zu lösen, dazu sollte ein akademisches Hirn wie das meine mühelos im Stande sein. Wie klug kann solch ein Mörder schon sein? Hat er vielleicht die Assistenzstelle in Marburg bei Professor Dr. Dr. Blöing überlebt? Den Ausflug des Kollegiums an die Märkische Seenplatte? Stand er jemals vor dem unlösbaren Rätsel um den Ursprung der Currywurst? Nein! Na, also. Dieser Mord ist zweifellos kulinarischer Natur, und, das gestehe ich frei heraus, nur ich verstehe die Brisanz dieser Situation. Die Franzosen zumindest tun dies ganz offensichtlich nicht. Was ist nur aus dem Land Escoffiers und Vatels geworden? Aus einer Nation, die den Wert eines perfekt gekochten Frühstückseis zu schätzen wusste? Und lange vor den Deutschen verstanden hat, wann man den Rand beim Käse mitessen darf?«
Jan lehnte sich vor. »Sie bieten hier übrigens auch einen Käseteller an. Soll ich den für dich bestellen? Ich hab ihn gerade am Nachbartisch gesehen. Schaut übel aus.«
»Nein, das darf einfach nicht sein!« Der Professor hatte alles um sich herum vergessen und stand im Geiste vor seinen Studenten im Auditorium.
»War nur ein Angebot«, fuhr Jan fort. »Unter anderem sind Brie de Meaux und Trappiste de Tamié drauf. Beide unreif.«
»Das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren!« Bietigheim versuchte den Lernwilligen den Ernst der Situation zu verdeutlichen.
»Ist doch bloß Käse.«
Was hatte Jan gerade gesagt? Nur Käse?
»Das macht mich rasend! Da hört bei mir der Spaß ganz entschieden auf!«
»Ich bestell ihn ja nicht!«
Bietigheim sah seinen Verwandten verwundert an. »Wovon redest du, Herrgott noch mal?«
»Vom Käseteller.«
»Ach, so. Na, bestellen! Was sonst? Eine Mahlzeit ohne Käse ist wie eine schöne Frau mit nur einem Auge , Brillat-Savarin. Außerdem sind wir nicht zum Spaß hier! Und für den Mörder hört der Spaß nun auch auf.«
Bietigheim kam erst spät ins Bett, und die Nacht verbrachte er grübelnd und umherwandernd. Am nächsten Morgen – allerdings erst nach einem erfreulich durchschnittlichen Frühstück in Form eines labberigen Croissants – rief er den größten Schweinekauer Norddeutschlands an.
Und holte damit das Chaos ins Burgund.
KAPITEL 2
Der Carnivore
Pit Kossitzke war ein Rocker mit Glatzkopf und einem Rauschebart, der ihm jeden Advent einen Job als Weihnachtsmann einbrachte. Und er war ein Carnivore. Ein Fleischfresser. Er liebte sein Steak blutiger als Graf Dracula, und unter fünfhundert Gramm kam ihm keines auf den Tisch. Viel und fettig musste sein Essen sein. An Beilagen ließ er nur eine zu: noch mehr Fleisch. Und zum Nachtisch: Fleisch. Vielleicht mit einem kleinen Zwischengang aus Wurst. Wenn der Spruch stimmte, dass man ist, was man isst, war Pit halb Schwein, halb Rind – wobei seine Leber vielleicht aus Hühnchen und sein rechter Unterschenkel aus den Festtags-Kaninchen seiner Mutter bestand.
Pit war nicht dick, er war massiv. So wie die Titanic ein massives Schiff war. Neben ihm wirkte man so zierlich wie ein Gartenzwerg im Schatten der Alpen.
Als ihn Professor Bietigheims Anruf erreichte, rauchte er gerade Zigarre – eine Cohiba Cabinett. Sie gehörte dem Professor. Wie auch der lederne Chesterfield-Ohrensessel, der seinen Körper umschmeichelte, sowie alles andere in der stuckverzierten Hamburger Altbauwohnung, die sich in einer Gründerzeitvilla des Stadtteils Eppendorf befand.
Pit war hier zum Blumengießen.
Seit zwei Wochen.
Eigentlich sollte er nur alle drei Tage nachschauen, ob die Grünpflanzen ihre Blätter hängen ließen. Doch Pit hatte entschieden, dass eine Vierundzwanzig-Stunden-Überwachung den Schutzbefohlenen am besten tue. Soweit er das sehen konnte, gediehen sie alle wunderbar.
Er nahm den Hörer ab.
»Bei der Arbeit, Prof!«, sagte er zur Begrüßung.
»Um diese Uhrzeit?«
»Die Rosen brauchen eine Spezialbehandlung.«
»Ich habe gar keine Rosen!«
Pit blickte sich um. Er hatte die Blumen mit den roten Blüten für Rosen gehalten. Waren denn nicht alle roten Blumen irgendwie Rosen?
»Und wie geht's im Burgund? Haben Ihnen die hübschen Französinnen schon den Kopf verdreht?«
»Also, bitte.«
»Aber gerne!« Pit lachte, denn er liebte es, den Professor zu foppen.
»Mir ist nicht nach Späßen zumute. Ich benötige aufgrund einer brisanten
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