Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
besorgten Blick zugeworfen hatte. Melias Ausfälle schienen sich zu häufen. Aber was hatten sie zu bedeuten? Warum verfing sich Melia im Netz der Vergangenheit?
Und was ist mit dir, Schwester? Warum kannst du nicht aufhören, an Corantha und den Tanz für Gulthas zu denken?
Die Luft war warm, ihr stand der Schweiß auf der Stirn. Hier war sogar ihr Sommergewand, das für das kühlere Klima der Domänen geschneidert war, schwer und heiß. Sie wünschte sich, sie wäre so gekleidet wie die Menschen um sie herum, in helle, lose fallende, fließende Stoffe. Sie begnügte sich damit, ihr Oberteil teilweise aufzuschnüren; in den Domänen wäre das unschicklich gewesen, aber sie bezweifelte, dass es in Tarras jemandem auffallen würde.
Beinahe wäre sie die Straße der Flammen entlanggegangen, ohne es zu wissen. Ihr Mund war trocken, und sie hatte darüber nachgedacht, einen Straßenhändler zu finden, der gekühlten Wein verkaufte. Doch die Straße, in der sie sich gerade befand, war ungewöhnlich leer; der einzige Schmuck bestand aus dunklen Tüchern, die die Spitzen der Marmorsäulen an beiden Enden verhüllten.
Sie wollte die Straße gerade verlassen, als eine scharfe, vom Meer kommende Brise eines der schwarzen Tücher anhob und enthüllte, was darunter verborgen lag: eine gewundene, aus Stein gefertigte Form, die mit funkelndem Gold überzogen war.
Natürlich, du Einfaltspinsel. Das ist die erste Straße, die nicht mit Menschen überfüllt ist. Du hättest wissen sollen, dass sie so sein würde. Schließlich trauern sie alle.
Der Wind erstarb, und das schwarze Tuch legte sich wieder auf die vergoldete Steinflamme. Ihren Durst vergessend, drehte sich Lirith um. Es gab dutzende Läden, die aber alle dunkel und stumm waren. Sie wählte eine große Tür in der Straßenmitte. Sie war grün gestrichen und mit einer goldenen Hand geschmückt – vermutlich das Siegel des Gottes Ondo. Sie hob die Hand, um anzuklopfen.
»Geht weg!«, sagte eine gedämpfte Stimme von der anderen Seite der Tür.
Lirith riss die Hand zurück. In der Mitte der Goldhand befand sich ein kleines Loch. So hatten sie sie also gesehen.
»Hallo«, sagte sie und versuchte ihre Stimme auf das Guckloch zu richten. »Wenn Ihr einen Moment Zeit hättet, ich möchte mit Euch sprechen.«
Ein Schnauben ertönte. »Ihr meint, Ihr wollt uns umbringen und uns um unser Gold betrügen.«
Lirith runzelte die Stirn. Falls der Besitzer der gedämpften Stimme ein typisches Gildemitglied war, dann waren diese Goldschmiede ein misstrauischer Haufen. Andererseits, vermutlich würde man sich nicht besonders sicher fühlen, wenn einem gerade der Gott ermordet worden war.
»Das ist wohl kaum möglich«, sagte Lirith. »Es wäre ziemlich unmöglich, Euch um Euer Gold zu betrügen, nachdem ich Euch umgebracht habe.«
»Na gut, in dem Fall …«
Ein Schloss wurde umgedreht, dann schwang die Tür ein paar Zentimeter weit auf. Dahinter verbargen sich ein dunkler Raum und ein außerordentlich winziger und runzeliger alter Mann in einem gelben Gewand.
Lirith nickte. »Danke.«
»Einen Augenblick, Mädchen.« Auf dem Kopf des alten Mannes ragten ein paar weiße Haarbüschel steil in die Luft. »Du hast mich doch wohl gerade nicht verspottet, oder? Ich glaube doch.«
»Natürlich nicht«, log Lirith hastig. »Ich wollte Euch bloß beruhigen, das ist alles. Ich bin völlig harmlos. Seht Ihr?« Sie breitete die Arme aus, zeigte ihre leeren Hände.
»Hm. Nun, du bist ziemlich dürr. Und du kleidest dich seltsam. Bist du eine Bettlerin? Glaub bloß nicht, dass wir geneigt sind, uns großzügig von unserem Gold zu trennen, bloß weil euer Gott auch getötet wurde. Von uns kriegst du gar nichts!«
»Ihr wisst von Geb?«
»Geb, Dreck. Was spielt der Rattengott schon für eine Rolle, wenn Ondo der Goldene nicht mehr ist?« Der Alte fuhr sich mit einer verwelkten Hand über die Augen. »Kein Gold mehr für die Kuppeln von Tarras. Sie werden für alle Zeiten stumpf und farblos sein, genau wie unsere Herzen.«
Lirith verspürte Mitleid. Der arme Mann – er hatte alles verloren, was ihm etwas bedeutet hatte, und sie verspottete ihn. Sie griff nach seinem Arm.
Er schlug ihre Hand zur Seite.
»Fass mich nicht an, Mädchen! Die Götter allein wissen, wann sie das letzte Mal gewaschen wurde. Vermutlich noch nie. Könnt ihr Bettler nicht mal um Seife bitten? Immer nur begierig nach Gold. Du solltest dich lieber vorzeigbar machen. Vielleicht würde dich dann jemand als
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