Die letzte Rune 05 - Der Tod der Götter
Lehrling aufnehmen, damit du dir deinen Lebensunterhalt auf ehrliche Weise verdienen könntest. Zweifellos bist du dumm und kannst nichts. Aber die Färber würden dich nehmen, um ihre Bottiche umzurühren. Dafür braucht man keinen Verstand und auch kein Talent. Du wärst perfekt dafür.«
Jedes Mitleid, das Lirith verspürt hatte, verflog wie Wasser in der Sonne. Sie wollte etwas erwidern, fand aber nicht die nötigen Worte, und nur die Tatsache, dass sie die Arme fest an die Seiten drückte, konnte verhindern, dass sie den Alten auf der Stelle erwürgte.
»Was?«, stieß er hämisch hervor. »Die Sprache verloren? Nun, ich schlage vor, dass du woanders danach suchst. Wir können hier keine seltsam aussehende, stumme Zurückgebliebene gebrauchen. Und jetzt überlass mich meinem Leid!«
Die Tür knallte zu, nur etwa eine Haarbreite von Liriths Nase entfernt.
Sie verbrachte noch eine Stunde in der Straße der Flammen, ohne allerdings mehr Glück zu haben. Mit Hilfe der Gabe fand sie heraus, welche der Werkstätten belebt waren, und klopfte dann an der Tür. Doch die sich ergebenden Unterhaltungen waren noch unerfreulicher als die erste, falls das überhaupt möglich war. Obwohl alle Goldschmiede den Verlust ihres Gottes betrauerten, waren sie auch ohne Ausnahme hochmütig, beleidigend und bösartig. Falls Ondo auch nur annähernd so ähnlich wie seine Anhänger gewesen war, würden die anderen Götter mehr als nur froh sein, ihn losgeworden zu sein.
Müde und von dem Verlangen erfüllt, in die kühle Ruhe ihres Gasthauses zurückzukehren, zwang sie sich, es an einer letzten Tür zu versuchen. Eine hübsche Frau öffnete, kaum älter als sie, und einen Augenblick lang stieg Hoffnung in ihr auf.
Sie wurde genauso schnell wieder zunichte gemacht, als die Frau in eine scharfe Tirade ausbrach, die die Begrüßungen ihrer Gildekollegen vergleichsweise warmherzig erscheinen ließ.
»Wie könnt Ihr es wagen, in einem solchen Augenblick zu uns zu kommen und Schätze von uns zu verlangen?«, kreischte die Frau.
»Aber ich will doch gar keine Schätze«, sagte Lirith. »Ich möchte bloß …«
»Ich will wissen, wen Ihr anbetet. Ist es Imai? Jorus? Oh, ich verstehe.« Sie tippte Lirith mit dem Finger auf die Brust. »Es ist Sif. Nun, da könnt Ihr gleich wieder gehen. Ihr werdet Eure kostbaren goldenen Amulette nicht bekommen. Nicht im Augenblick. Bis die Etherion uns einen neuen Gott gewährt, werden die Goldschmiede für keinen der Tempel irgendwelchen Schmuck herstellen. Und für die, die uns bestehlen wollen, werden wir nie wieder etwas machen! Ihr werdet euch nur noch mit Bronze zufrieden geben müssen!«
Diesmal war Lirith darauf vorbereitet. Sie trat zurück und entging der Tür nur knapp, als sie zugeschlagen wurde. Ihre gute Laune war verflogen, sie verließ die Straße der Flammen und ging zurück in Richtung Gasthaus.
Bei dem ersten Straßenhändler, der ihr begegnete, kaufte sie einen Becher Wein. Oder versuchte es zumindest. Denn nachdem sie dem Mann eine Münze gegeben hatte, kippte er einen Tonkrug und vergoss Wein auf der Straße, dann reichte er Lirith einen Holzbecher und lächelte.
»Entschuldigt«, sagte Lirith und starrte in den leeren Becher. »Aber bekommt man nicht zuerst den Becher und dann den Wein?«
Der Straßenhändler schlug sich auf die Stirn. »Verzeiht mir, gute Frau. Anscheinend kann ich heute nichts richtig machen. Ich werfe alles durcheinander. Als ich gerade aus dem Tempel kam, wollte ich meinen Krug füllen, dabei war er schon voll. Ich habe einer Dame Wein über die Füße gegossen. Sie war darüber gar nicht erbaut.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Lirith. Sie hielt ihm den Becher hin.
Diesmal bekam der Bursche die Reihenfolge richtig hin. Lirith nahm seine Entschuldigung an – und den Becher, den er ihr für ihre Unannehmlichkeiten schenkte –, aber sie schmeckte die süße Flüssigkeit kaum, als sie sie trank. Sie wollte den anderen nicht sagen müssen, dass sie von den Goldschmieden nichts erfahren hatte.
Aber stimmte das überhaupt? Etwas von dem, was die letzte Frau gesagt hatte, schien wichtig zu sein. Sie hatte Sif erwähnt, sie hatte wohl geglaubt, dass Lirith seine Anhängerin war. War Sif ein Gott? Und wenn das so war, warum hatte die Frau geglaubt, dass Lirith zu seinen Anhängern gehörte?
Sie erinnerte sich daran, wie die Frau mit dem Finger auf sie gezeigt hatte, und schaute nach unten. Das bronzene Spinnenamulett schimmerte matt im Sonnenlicht,
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